Nach der Hysterie In Halle-Nietleben ging die Angst vor Flüchtlingskindern um. Wie ist die Situation heute?

Halle (Saale) - Muss man vor Dauda Daramy Angst haben? Sollte sich seine Nachbarschaft vor dem jungen Mann, der an einem Freitagnachmittag auf dem Hof der ehemaligen Landesrettungsschule in Halle-Nietleben steht, fürchten? In eine dicke Jacke eingepackt und mit Rucksack auf dem Rücken sieht der 18-Jährige wie ein Schuljunge aus. Ist Daramy ja auch. Gerade kommt er vom Unterricht in der Berufsschule. Dort habe seine Klasse „Billy Elliot“ geschaut, erzählt Daramy. Der Film handelt von einem Jungen, der von seinem Vater zum Boxen geschickt wird, jedoch lieber Ballett tanzen will. „Es geht darum, dass man nicht aufgeben sollte“, sagt Daramy. Irgendwie passt das auch zu seinem Leben.
Ex-Rettungsschule des DRK in Nietleben geriet in die Schlagzeilen
Daramy kommt aus Sierra Leone, einem Staat in Westafrika. Seit acht Monaten lebt er in der Ex-Rettungsschule des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), die im vergangenen Frühjahr plötzlich in die Schlagzeilen geriet. Damals wurde bekannt, dass das Gebäude in eine Clearingstelle umgewandelt werden soll. Dorthin kommen minderjährige Flüchtlinge, die unbegleitet nach Deutschland einreisen. Es ist eine Erstaufnahme-Einrichtung, in der die Identität der Kinder und Jugendlichen geklärt und eine passende Unterkunft gesucht wird.
Das Video zeigt die Eskalation bei der Veranstaltung im April 2016
In Nietleben sollte Platz für 16 Flüchtlinge geschaffen werden, was Teile des Viertels in Rage versetzte. Bei einer Info-Veranstaltung kam es im April 2016 zur verbalen Eskalation. Die Anwohner fühlten sich übergangen und „verarscht“. Sie befürchteten, es könne zu Gewalt und Belästigungen kommen. „Wissen Sie, ob die nicht auf mich losgehen?“, fragte eine Frau die DRK-Mitarbeiter. Eine andere vermutete: „Da kommen 13-Jährige, die Frauen vergewaltigen.“
Genau zu dieser Zeit, als in Nietleben einige Bewohner beginnen, sich vor Flüchtlingen zu fürchten, beginnt Dauda Daramy aus Furcht zu flüchten. Er ist damals 16 Jahre alt und setzt sich in seinem Dorf dafür ein, dass Jungen und Mädchen zur Schule gehen dürfen - und nicht zur Arbeit gezwungen werden. Daramy organisiert Demonstrationen, was den lokalen Machteliten missfällt. „Ich konnte dort nicht bleiben“, sagt er. Sierra Leone gilt als demokratischer Musterschüler in Afrika: Zentrale Regierung, florierende Wirtschaft, Meinungsvielfalt. Bis 2002 allerdings tobte in dem Staat mit sieben Millionen Einwohnern ein brutaler Bürgerkrieg. Er wurde mit solcher Grausamkeit geführt, dass Beobachter von einem zivilisatorischen Tiefpunkt sprechen. 100 000 Menschen kamen ums Leben - auch Daramys Vater. Getötet wurde er allerdings nicht als Soldat, sondern bei einem Überfall. Bis heute wohnt sein Mörder im Dorf, in dem auch Daramys Familie lebt.
Einwohnerin von Nietleben: „Also Vorfälle gab es, soweit ich weiß, nicht“
Der junge Mann aus Sierra Leone flieht im Sommer 2016, zehn Monate ist er unterwegs: durch die Sahara nach Libyen, per Boot nach Italien, weiter nach Deutschland und schließlich: Nietleben, am Stadtrand von Halle. Es ist ein ruhiges Viertel, kaum Arbeitslosigkeit, die Einwohner eher im Rentenalter. Ein Haufen marodierender Jugendlicher müsste hier auffallen. Doch die Frau, die mit ihrem Hund gerade Gassi geht, hat von den neuen Nachbarn noch nichts mitbekommen. „Also Vorfälle gab es, soweit ich weiß, nicht - man bemerkt die gar nicht“, sagt sie und geht weiter.
Die Ex-Rettungsschule liegt in einer Sackgasse. Zwei graue Dreigeschosser mit rotem Ziegeldach. Das Interieur ist abgewohnt, die Einrichtung in die Jahre gekommen. Kaum etwas wurde neu gemacht, nachdem die Ausbildung von Rettungsassistenten und Sanitätern endete. Derzeit sind 13 Jungen aus sieben Nationen in dem Gebäudekomplex untergebracht. Der Jüngste ist 15 Jahre alt.
Betreuer in Nietleben: „Wir reden viel mit den Jugendlichen“
Eine Handvoll Bewohner sitzt am Freitag im Bistro, dem großen Aufenthaltsraum. Es riecht wie auf einem orientalischen Basar. In der Küche nebenan steht ein Topf frisch gekochte Petersilien-Kichererbsen-Suppe - eine afrikanische Spezialität. „Wir kochen ab und an Gerichte aus den Herkunftsländern der Jugendlichen, damit die Umgewöhnung nicht so schwer fällt“, sagt Andreas Below. Er ist der Leiter des Wohnheims. Dauda Daramy nennt ihn „mein Chef“ - was dem Benannten nicht so gut gefällt.
Below, der Basecap und Stoppelbart trägt, ist eher der Kumpel-Typ. Militärischer Drill gehört nicht zu seinem pädagogischen Repertoire. Dafür Gesprächskreise: „Wir reden viel mit den Jugendlichen, probieren sie in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.“ Es habe zum Beispiel kürzlich ein Hygieneproblem mit den Toiletten gegeben, sagt Below. „Da haben sich alle zusammengesetzt und beschlossen, dass die Bewohner einen Toilettendienst organisieren, der jeden Abend schaut, ob alles sauber ist.“
Nietleben: Zuletzt gab es einen Streit um eine Spielkonsole
Die Jugendlichen werden in Nietleben rund um die Uhr betreut. Die Atmosphäre kann man sich als Mischung zwischen Jugendherberge und Ferienlager vorstellen. „Für die Bewohner ist das auf Dauer aber keine ideale Situation“, sagt Below. Natürlich werde probiert, den Geflüchteten eine Art zu Hause zu schaffen. „Aber wenn 13 Jugendliche auf engem Raum zusammenleben, bleiben Probleme nicht aus.“ Zuletzt gab es einen Streit um eine Spielkonsole, der damit endete, dass das Gerät von den Betreuern bis Weihnachten eingezogen wurde. „Aber solche Vorfälle kommen in jedem anderen Heim auch vor“, meint Leiter Below.
Wo Kinder und Jugendliche leben, wird man sie immer bemerken. Die Frage ist, wie man damit umgeht. „Wenn es etwas lauter wird, dann sagen wir Bescheid“, meint ein älterer Herr, der auf der anderen Straßenseite wohnt. Es seien auch schon Bälle in seinen Garten geflogen und hätten Blumen umgemäht. „Da habe ich mich natürlich beschwert und seitdem ist das auch nicht mehr passiert“, sagt der Mann.
Beliebt ist in Nietleben Zeit die kleine Fitnessecke im Sportraum
Die anfängliche Hysterie war schnell verflogen, erzählt Andreas Below: „Angesichts der Vorgeschichte wurden wir sogar erstaunlich freundlich hier empfangen.“ Viele Anwohner hätten gleich Kleider- und Sachspenden gebracht. „Eine Frau strickte sogar Schals für den Winter.“ Ein unangenehmes Ereignis gab es zuletzt allerdings doch, sagt Below: „Nach der Bundestagswahl wurde an unserem Gebäude in der Nacht mehrere Aufkleber der AfD angebracht.“
Der Aufenthaltsraum leert sich langsam. Am Freitagnachmittag gibt es keine Kurse oder Gruppenaktivitäten. Beliebt ist in dieser freien Zeit die kleine Fitnessecke im Sportraum. Dort stemmen die Jugendlichen Hanteln. „Das ist eine Art Kompensation“, meint Andreas Below. „In den letzten Monaten und Jahren haben diese Jungs so viel Kontrolle über ihr Leben abgegeben, da wollen sie wenigstens die Kontrolle über ihren Körper zurückgewinnen.“
18-jähriger Flüchtling plant bereits seine Zukunft
Auch Dauda Daramy will wieder selbst bestimmen. Über seinen Asylantrag entscheiden zwar andere, aber der 18-Jährige plant bereits seine Zukunft. Bald macht er ein Praktikum bei der Stadtmission in Halle, denn Daramy will Sozialarbeiter werden. „Wie Herr Below“, sagt er, lacht und holt sich einen Teller Kichererbsensuppe. Am Nachmittag hat der 18-Jährige noch Training. Nicht Bankdrücken, sondern Fußball. Im Sommer ist er dem FC Halle-Neustadt beigetreten, hat in dieser Saison für die erste Mannschaft schon drei Tore geschossen - mindestens auf dem Fußballfeld ist Daramy also bereits in Deutschland angekommen. (mz)
