Ilke Wyludda Ilke Wyludda: Vom Ehrgeiz getrieben

Halle/MZ - Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz bei Leichtathleten aus der Werfer-Abteilung. Es lautet: Unmittelbar vor entscheidenden Wettkämpfen unbedingt Hände weg von den ganz schweren Hanteln. Es nutzt eh nichts mehr, jetzt noch die dicken Gewichte zu wuchten. Eigentlich ist wildes Wüten im Kraftraum zu diesem Zeitpunkt der Form sogar abträglich.
Natürlich hat auch Ilke Wyludda diese Erkenntnis der Trainingswissenschaft verinnerlicht. Seit Jahrzehnten. Und dennoch: Am Mittwochabend stemmte sie noch einmal 100 Kilogramm beim sogenannten Schräg-Bankdrücken mit Maximalkraft. Danach erst konnte sie lächeln. Erst jetzt war für sie klar: Ich bin gut drauf.
Am Donnerstag bestieg sie dann also frohen Mutes den Zug nach Lyon. Dort trifft sich die Elite der Behindertensportler zu den Welttitelkämpfen. Morgen wird Ilke Wyludda, die seit Dezember 2010 Unterschenkel amputierte Diskus-Olympiasiegerin der Sommerspiele 1996, dort die Kugel stoßen. Eine Woche darauf steht dann das Diskuswerfen als zweiter Wettbewerb an.
„Entscheidend für Ilke ist der Kugelstoß-Wettkampf. Da geht es um eine Bestleistung, also darum, ein wenig mehr als ihren deutscher Rekord von 10,63 Metern zu stoßen, den sie im Frühjahr aufgestellt hat. Was für ein Platz dann herausspringt, wird man sehen. Schließlich ist das mit der Klassifizierung der einzelnen Behinderungen etwas schwierig“, sagt Andrea Petersen. Sie ist die Trainerin der 44-Jährigen - und in Halle geblieben. Eine Ärztin, mit der Ilke Wyludda seit Jahren befreundet ist, und die Eltern sind in Frankreich vor Ort, um zur Seite zu stehen.
Natürlich wäre Petersen gern in Lyon dabei gewesen. „Aber Ilke hat sich etwas spät zu der Meinung durchgerungen, dass ich dann doch mitsolle“, sagt die 56-Jährige. Nun betreut sie eben den Nachwuchs bei den Landesmeisterschaften am Wochenende. Ist ja auch ihr Hauptjob. Das Training von Wyludda übernahm sie nebenbei aus „alter Freundschaft“. Die zwei kennen sich seit über 30 Jahren.
Andrea Petersen sprang ein, als Gerhard Böttcher im Vorjahr keine Zeit mehr fand. Der Coach aus den Hochleistungs-Jahren der Werferin war an irgendeiner Stelle auch von den Eigenheiten der Ilke Wyludda zermürbt. Von deren unbändigem und verbissenem Ehrgeiz, den sie schon früher hatte und der sich bei der Behinderten-Sportlerin Ilke Wyludda noch gesteigert hat. Ein Indiz sind die Hantel-Übungen mit Maximal-Gewichten kurz vor der Abfahrt zum Jahreshöhepunkt.
Andrea Petersen weiß: Ändern kann sie ihren Schützling eh nicht. Ilke Wyludda wird immer ihren eigenen Kopf durchsetzen. Also lässt sie ihr Athletin gewähren, versucht, mit Fingerspitzengefühl die manches Mal knurrige und oft mit sich selbst unzufriedene Athletin anzuleiten.
Für Außenstehende kommt Ilke Wyludda heute wie eine Getriebene daher. Ihr Trainingseifer ist beispielhaft - sagen Bewunderer. Er sei nicht mehr im normalen Bereich - sagen Kritiker und Besorgte. Vor der Arbeit als Ärztin im Bergmannstrost - die Klinik hat sie gerade vier Wochen für den Sport freigestellt - kommt Wyludda in die Werferhalle zur ersten Einheit des Tages, nach Dienstschluss zur zweiten. Platz fünf bei den Paralympics 2012 in London, klasse. Aber sie will die Beste sein. Ob es bereits in Lyon gelingt, ist fraglich.
Rio de Janeiro, die Behinderten-Spiele 2016 in Brasilien, sind das große Ziel. Dort steht nur noch das Kugelstoßen im Programm. 20 Jahre nach dem goldenen Triumph von Atlanta mit dem Diskus dann in einer komplett neuen Sportart noch einmal ganz oben und damit im Rampenlicht zu stehen, dies ist der Antrieb der Ilke Wyludda.
Und es geht ihr tatsächlich auch um Aufmerksamkeit. „Erst nachdem ich mein Bein verloren hatte, war ich plötzlich wieder interessant“, hatte sie 2012 bei den Spielen geklagt. Die einstige Weltklasse-Athletin, die im Widerspruch dazu zugleich oft sperrig wie knurrig den Medien gegenüber auftritt, möchte nicht in Vergessenheit geraten. Andererseits will Ilke Wyludda sich und anderen beweisen: Mit Akribie und Ehrgeiz kann man es zu Top-Leistungen bringen, egal ob behindert oder nicht - und dazu auf dem eigenen Weg.