Heimliche Hallenser Heimliche Hallenser: Eier für den Einheitskanzler Helmut Kohl

Halle (Saale) - So mancher geschichtliche Wendepunkt bleibt in der Historie für immer mit einem Zwischenfall verknüpft - samt zugehörigem Ortsnamen: Man denke an den „Prager Fenstersturz“ eingangs des Dreißigjährigen Krieges oder an die „Emser Depesche“ im Vorfeld des Kriegs von 1870. Und dann gab’s noch ein Ereignis namens „Hallescher Eierwurf“, das zwar stets nur als folgenloses Skandälchen und nicht selten mit Häme kommentiert wurde und wird, das aber durchaus nicht wirkungslos blieb.
Zumindest darf der 10. Mai 1991 auch derzeit in keinem mehr als fünfminütigen Rückblick auf die Zeit der deutschen Wiedervereinigung fehlen. Dass aber ausgangs der sogenannten Wendezeit die Attacke auf Helmut Kohl (1930-2017) vor dem Stadthaus in Halle eine kleine Wende markierte, dämmerte vielen erst viel später.
Bei einem seiner Antrittsbesuche in den neuen Bundesländern kam Helmut Kohl auch ins Chemie-Dreieck
Die eigentliche Geschichte ist rasch erzählt. Bei einem seiner Antrittsbesuche in den neuen Bundesländern kam Helmut Kohl auch ins Chemie-Dreieck, wo er am 10. Mai 1991 in Buna und Bitterfeld beiden Standorten - laut damaliger Tagesschau-Meldung - einerseits „das Überleben zusicherte“: Was aber andererseits „ohne drastischen Personalabbau nicht möglich“ sei. Der solle jedoch „so sozial wie möglich gestaltet werden“.
Zudem wolle die Bundesregierung helfen, die ökologischen Schäden im Chemiedreieck zu beseitigen, das „als das am stärksten verseuchte Industriegebiet Europas“ gelte, so las e der Tagesschausprecher Wilhelm Wieben seinerzeit vom Blatt ab.
Kohls Versprechen
Anschließend stand ein „Informationsaufenthalt“ in Halle auf Kohls Tagesplan. Der Kanzler überquerte hier den Markt vom Rathaus kommend in Richtung Stadthaus, nahm ein Bad in der Menge und schüttelte Hände, als auch schon einige Pfiffe und Buh-Rufe ertönten, samt „Lügner“-Brüllern, die sich wohl auf das vielzitierte Kohl-Versprechen von 1990, der Osten werde sich „in blühende Landschaften“ verwandeln, bezogen - als plötzlich einzelne aus der Demo-Jugend mit Eiern zu werfen begannen. Wovon einige auch trafen, so dass Eiweiß samt Dotter reichlich auf des Kanzlers Anzug tropften.
Dann aber geschah etwas völlig Unerwartbares, das gut und gern als Extrakapitel in Lehrbücher für die Security eingehen könnte: Der attackierte Kohl suchte nicht etwa Schutz oder Deckung, sondern stürmte los in Richtung derer, die er als Werfer ausgemacht zu haben schien, und versuchte sich wohl einen der Täter zu greifen. Woraufhin seine Personenschützer so verzweifelt wie vergeblich versuchten, ihn aus der Gefahrenzone zu ziehen.
Der stattlich und starke Kohl ließ sich nicht bändigen
Aber der stattlich und starke Kohl (damals immerhin 61 Jahre alt) ließ sich nicht bändigen, kehrte nochmals um, um - wie es ein Augenzeuge, auf gut Hallesch gesprochen, vermutete -, diesem Eierwerfer-Eierkopf „eene off de Labbe“ zu hauen.
Aber wem genau? Obwohl auf den Filmausschnitten gut zu sehen ist, dass mehrere Eier gleichzeitig flogen, wurde als Täter einzig ein damals 21-jähriger Jurastudent, der Vize-Chef der SPD-Jugendorganisation in Halle war, ermittelt: Pech für ihn - doch anschließend hatte der Juso Glück. Nach seiner Verhaftung blieb er gänzlich straffrei, denn Helmut Kohl hatte nicht mal nach diesem ja doch tätlichen Angriff auf ihn eine Anzeige erstattet: Wie er es auch sonst bei tausenden Schmähungen, Beleidigungen und üblen Nachreden während der 16 Jahre seiner Amtszeit stets unterließ, sich über den Rechtsweg Genugtuung zu verschaffen.
„Kohl reagierte nie auf irgendeine Provokation“
„Kohl reagierte nie auf irgendeine Provokation“, staunte dann auch Hans Zippert, damals Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“, das diesen Kohl als seinen „Auflagenbringer“ auf fast jedem zweiten Titelbild zu bespötteln versuchte, ihn aber (paradoxe Intention?) eher zu popularisieren half.
Unvergessen ist die „Titanic-Schlagzeile während des Bonn-Berlin-Streits: „Helmut Kohl muss Hauptstadt bleiben!“ Und er blieb es - nach dem Eierwurf noch volle sieben Jahre! Vielleicht auch, weil er sich durch seine volkstümliche, ja rustikale Reaktion in Halle ganz spontan als das erwiesen hatte, was „ein Politiker zum Anfassen sein“ heißt: Denn mehr Nähe zum Volk als bei Kohl in Halle war wohl nie.
Halle mit Helmut Kohls Heimatstadt Ludwigshafen in manchem vergleichbar
Übrigens ist Halle mit Helmut Kohls Heimatstadt Ludwigshafen in manchem vergleichbar - in der Größe und im Schattendasein gegenüber der jeweiligen Nachbar- und Landeshauptstadt. Vielleicht hat bei seiner tragfähigen Freundschaft mit dem Hallenser Hans-Dietrich Genscher dieser Start aus der Provinz von beiden eine kleine Rolle gespielt. Denn als Köpfe der „christlich-liberalen Koalition“ hatten sie gleich zwei Wenden zu bewältigen.
Die - wie Kohl sie nannte - „geistig-moralische Wende“ von 1982 mit folgerichtigem Wirtschaftsaufschwung - was beides wohl auch half, sich der Herkulesaufgabe der nach dem DDR-Wendeherbst möglich gewordenen deutschen Einheit (gegen viele Widerstände) überhaupt stellen zu können: Und nicht daran zu scheitern!
Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit vor allem auch von Helmut Kohl
Dieser Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit vor allem auch von Helmut Kohl, die kurze historische Chance zur Einheit zu nutzen, hat auch Halle viel zu verdanken: Die nach den 40 Jahren Sozialismus-Desaster großflächig abrissreif gewordene Altstadt ist nun fast durchsaniert. Der Smog samt beißendem Gestank und die bis 1989 quasi giftige Saale - all das ist Vergangenheit.
Ob man aber das, was dann begann, gelegentlich mal „blühende Landschaften“ nennt, darf weiter als Geschmackssache gelten. (mz)

