Hauptbahnhof Halle Hauptbahnhof Halle: 70 Jahre lang fuhren die Züge über eine Bombe

Halle (Saale) - Seit einiger Zeit schon schwenkt Henning Krause seinen Metalldetektor über eine Freifläche am halleschen Hauptbahnhof. Es piept ununterbrochen. Eigentlich ein gefährliches Zeichen, wenn das passiert. Nicht aber in diesem Fall. Denn es sind nur Nägel, Schrauben und andere kleine Metallteile, auf die das Gerät anschlägt. Das ist aber nicht das, wonach der 38-Jährige sucht: Krause ist auf der Suche nach Bomben und Munitionsresten. Und zwar dort, wo in einigen Jahren riesige Güterzüge zusammengeschoben werden sollen.
Eine heikle Mission an einem besonderen Arbeitsplatz. Denn das rund 25 Hektar große Areal, auf dem noch zahlreiche Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges vermutet werden, ist die derzeit größte Baustelle Deutschlands. Rund 50 Kilometer Gleise und etwa 200 Weichen werden dort verlegt. Damit wächst der Rangierbahnhof Schritt für Schritt zum wichtigsten Güterdrehkreuz Mitteldeutschlands. Pro Stunde sollen dort einmal 120 Züge neu sortiert und auf die Reise geschickt werden. Doch bevor die ab 2018 gefahrlos über das Areal rollen können, müssen Krause und seine Kollegen von der Dresdner Bohrgesellschaft alle Altlasten in der Erde aufgespürt haben.
Gefährliche Suche
Und das ist mitunter sehr gefährlich, wie Krause im Frühjahr 2015 erlebt hat. Damals entdeckten die Experten nur wenige Zentimeter unter dem Gleisbett eine 115 Kilogramm schwere Fliegerbombe. 70 Jahre lang lag die Bombe dort, 70 Jahre lang rollten jeden Tag Züge über sie hinweg. Was Laien sofort in Angst versetzt, bringt Krause nicht aus der Ruhe - sicher nicht die schlechteste Eigenschaften in diesem Job. Bei einer solch großen Bombe informiert er den Kampfmittelbeseitigungsdienst. Der hat damals entschieden, dass eine Entschärfung zu gefährlich ist und die Bombe vor Ort gesprengt.
Gefunden hat Krause die Bombe mit dem Metalldetektor. Hilft der nicht mehr weiter, kommt ein sechs Meter langer Bohrer zum Einsatz, der sich in die Erde frisst. Krause führt dann eine Sonde in das Loch ein, der einen Umkreis von anderthalb Metern abtastet. „Die erste Bohrung ist deshalb immer die gefährlichste“, sagt er. Auf einem Display an der Oberfläche kann er größere Metallstücke - also auch Bomben - erkennen. Damit das gesamte Areal erfasst werden kann, müssen in Halle für mehrere Millionen Euro Tausende Löcher nach einem Raster gebohrt werden.
Acht Tonnen Munition gefunden
Die Menge der Funde ist beeindruckend. Mehr als acht Tonnen Munition haben Krauses Team und der Kampfmittelbeseitigungsdienst seit 2012 aus der Erde geholt. Insgesamt 85.000 Teile, von Maschinengewehrpatronen bis zu Panzergranaten. „Es gibt dabei immer Schwerpunkte, es ist nicht alles großflächig verteilt“, erklärt Ronald Kaiser, der den Ausbau des Verkehrsknotens für die Deutsche Bahn überwacht.
Erklären lassen sich die konzentrierten Fundorte durch die Bahnhofshistorie. So lag in den Hanglagen rund um die Gleisanlage viel Infanteriemunition, weil sich dort im Zweiten Weltkrieg Soldaten verschanzt hatten. Den bisher größten Fund - zwei Tonnen Munition - gab es direkt neben einer Kleingartensiedlung. „Bei solchen Mengen muss schon ein Waggon mit Waffen umgekippt oder zerstört worden sein“, sagt Kaiser. Stück für Stück durchkämmten die Spezialisten das Gebiet, baggerten Erde aus und durchsiebten sie behutsam. Vor allem Phosphorgranaten kamen dabei zum Vorschein.
Was sonst noch alles unter der Erde schlummert
Sie gelten als besonders gefährlich. Phosphor entzündet sich durch den Kontakt mit Luft und brennt dann mit einer mehr als 1 000 Grad Celsius heißen Flamme ab. „Wenn das passiert, können wir mit Wasser nicht löschen“, sagt Kaiser. Deshalb müssen die Granaten behutsam geborgen und notfalls mit Sand bedeckt werden.
„Was hier alles unter der Erde schlummert, kann niemand so genau sagen“, erzählt Kaiser. Und es betrifft auch nicht nur Überbleibsel aus den beiden Weltkriegen, sondern auch die damalige Arbeit der Planer. Denn sie nahmen es vor 125 Jahren noch nicht so genau mit ihren Aufzeichnungen. In dieser Zeit wächst Halle rasant und genau so schnell wird auch der Bahnhof ausgebaut. Das, was in der Stadt an Schutt und Erde anfällt, landet unter anderem auf dem Bahnhofsgelände. „Doch anstatt die alten Gleise zu entfernen, schüttet man sie zu und verlegt neue darüber. An einigen Stellen sogar dreimal“, sagt Ronald Kaiser und hält einen verrosteten königlich-preußischen Schienennagel hoch, der aus Halle stammt. Alter: ungefähr 100 Jahre.
Tanks werden geborgen
Ein paar Jahrzehnte später wird nahe der Berliner Brücke ein Lokschuppen direkt über die alte Fettgasanlage gebaut, die aus Abfällen des wenige Hundert Meter entfernten Schlachthofs Lampengas raffinierte. Erst nur für die Züge, später auch für die gesamte Stadt. Die Tanks sind unter der Erde geblieben. Und mussten nun geborgen werden.
Solche Hinterlassenschaften bringen heute, Jahrzehnte später, den Bauablauf ins Stocken. So stellte sich erst letztens heraus, dass die Bauarbeiten zwei Jahre länger dauern - trotz penibler Planung. Und statt 700 Millionen Euro soll das Projekt nun 750 Millionen Euro kosten. Der Grund: Die meisten Fundamente neben der Bahnhofshalle sind so marode, dass sie komplett und nicht nur teilweise erneuert werden müssen.
Ein weiteres Problem: Häufig stehen die Arbeiter vor Kabelkanälen, die nirgendwo eingezeichnet sind. Markierungen? Fehlanzeige. „Viele dieser Leitungen werden noch genutzt, wir wissen aber nicht, wozu sie gehören“, erklärt Bahn-Projektleiter Thomas Herr, während er sich in seinem Büro über einen großen Flächenplan des Bahnhofs stützt. Herr ist dafür zuständig, dass alles ordnungsgemäß abläuft. Oder wie er es sagt: „Falls einer in 50 Jahren nochmal was am Bahnhof machen möchte, soll er von meiner gründlichen Arbeit profitieren. Ich will alles so gut dokumentieren, dass es nie wieder so ein Durcheinander gibt.“ Heißt: Taucht jetzt ein unbekanntes Kabel auf, muss Herr es zuordnen.
Aufwendige Entsorgung
Doch es sind so viele, dass er das alleine nicht schafft. Deshalb werden verschiedene Fachbereiche hinzugezogen. Kann niemand die Leitung identifizieren, wird sie gekappt. Mit dem Risiko, dass dann etwas im Bahnhof ausfällt. „Vor kurzem haben wir so die Lichter in einigen Bereichen ausgeknipst.“
Doch Kabel, Schrott und Munition müssen nicht nur gefunden, sondern auch entsorgt werden. Letzteres ist besonders aufwendig und wird vom Kampfmittelbeseitigungsdienst übernommen, der dafür einen eigenen Zerlegebetrieb in Magdeburg hat. In sprengstoffsicheren Lastwagen und Anhängern transportieren Räumer die Munition ab. Je nach Gebiet kommen sie dann mehrmals im Monat oder mehrere Wochen gar nicht. „Es hängt eben davon ab, ob wir etwas finden, denn das Lagern wäre für uns zu gefährlich“, sagt Thomas Herr.
Unterdessen hat Henning Krause bei einer neuen Bohrung wieder etwas entdeckt. Der Sensor hat in der Nähe eines großen Schutthaufens angeschlagen. Ob es eine Bombe oder nur Schrott ist? Er weiß er noch nicht. Aber er bleibt entspannt. So wie jeden Morgen, wenn er seine Frau mit einem Kuss verabschiedet. „Könnte ja der Letzte sein“, erzählt er trocken. (mz)
