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Stadtteil Nietleben Halle Nietleben: Ein Stadtteil zwischen den Welten

Von Dirk Skrzypczak 23.05.2017, 04:00
Zwischen Großstadt und dörflicher Idylle: Eckart Grohmann in der Windmühlenstraße
Zwischen Großstadt und dörflicher Idylle: Eckart Grohmann in der Windmühlenstraße Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Als Halle-Neustadt 2014 mit viel Tamtam den 50. Geburtstag seiner Gründung feierte, machten viele alteingesessene Nietlebener lange Gesichter. 1950 war die einst größte und reichste Gemeinde des Saalkreises durch staatliches Diktat von Halle geschluckt worden. Nietleben erstreckte sich zu diesem Zeitpunkt südlich bis zur heutigen Magistrale, im Osten bis zum Rennbahnkreuz und dem heutigen Heide-Süd.

1371 erstmals urkundlich erwähnt, war Nietleben bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert ein Bauern- und Kolonistendorf. Heute ist es vor allem bekannt durch den Heidesee.

„Eine Rolle hat das bei den Feierlichkeiten vor drei Jahren nicht gespielt, diese Geschichte wurde ausgeblendet“, sagt Eckart Grohmann, der seit 65 Jahren in Nietleben wohnt und die Zeit miterlebte, in der sich „Ha-Neu“ immer weiter in die dörfliche Idylle fraß und Jahrzehnte lang niemand wusste, ob der Ort, Stadtteil „Halle-West“, überhaupt dem sozialistischen Wohnungsbauprogramm standhalten würde.

Nietleben - das Industriedorf

In der Windmühlenstraße prallen die Gegensätze mit voller Wucht aufeinander. Hier die Häuserzeile Nietlebens, dort der Blick auf den mächtigen Elfgeschosser, der als Querriegel den Blick zum Horizont versperrt. „In meiner Kindheit war das anders. Da gab es hier nichts anderes als freies Feld und Natur“, erzählt Grohmann, heute Rentner und aktives Mitglied im örtlichen Heimatverein.

Zu sehen war allenfalls die Windmühle, die jetzt bekannt als Eselsmühle einen Farbtupfer in der Neustadt setzt. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts kämpfte Nietleben noch mit seinem Image als „industrielles Dreckdorf“. 1825 war man in der Flur auf Braunkohle gestoßen. Bis 1931 wurde der Bodenschatz abgebaut, auch Kalkmergel, Ton und Sand holten Arbeiter aus der Erde. Zwei Zementfabriken wurden gebaut, auch fünf Ziegeleien. „Mit den hier hergestellten Ziegelsteinen wurden große Teile Halles hochgezogen, ohne den Zement aus den Fabriken würde es auch die Neustadt so nicht geben“, sagt Grohmann, pensionierter Diplom-Ingenieur für Automatisierungstechnik.

Nietleben: Mit den Bodenschätzen kam der Wohlstand

Mit den Bodenschätzen kamen der Wohlstand, die Eisenbahn, ein Flugplatz, eine Nervenheilanstalt mit deutschlandweiter Reputation. Für die knapp 5.000 Einwohner Nietlebens gab es alle erdenklichen Geschäfte und eine Fülle von Gaststätten. „Wir hätten uns autonom versorgen können.“

Heute ist es beschaulich in Nietleben geworden, was die Leute hier durchaus zu schätzen wissen. Alte Häuser werden saniert, neue Villen stehen neben ehemaligen landwirtschaftlichen Höfen. Es gibt eine Kita und eine Grundschule - Nietleben ist ein Stadtteil mit Zukunft.

Halle Nietleben: In der Kolonistenstraße trotzt das „Rammelsche Gut“ allen Widrigkeiten

Die nahe Großstadt ist nur einen Steinwurf entfernt und bietet jeglichen Komfort beim Einkaufen, der medizinischen Versorgung und einen leistungsstarken Nahverkehr. Die Nietlebener genießen indes die naturnahe Lage mit der Dölauer Heide vor der Brust, der grünen Lunge Halles.

Wer beim Spaziergang durch den Ort die Augen öffnet, findet noch genug Spuren aus seiner Historie, die 1371 mit der Ersterwähnung beginnt. In der Kolonistenstraße trotzt das „Rammelsche Gut“ allen Widrigkeiten. Die Mauern haben Wind und Wetter im Laufe der Zeit aufgerissen. Unfreiwillig wird die sanierungsbedürftige Anlage, im Besitz einer Dachdeckerfirma, somit zum Beispiel der alten Baukunst. Auf einen Sockel mit Steinen wurde Lehm aufgestampft und mit Fachwerk eingefasst. „Das ist typisch für Nietleben und heute noch viel zu finden“, sagt Grohmann.

Nietleben in Halle: Den Ortskern dominiert die Kirche

Den Ortskern dominiert die Kirche mit ihren roten Klinkersteinen, 1886 erbaut und mit Platz für mehrere hundert Menschen. Ihre achteckige Form ist einzigartig in der Region. Einen Steinwurf von dem Gotteshaus entfernt teilt die Eislebener Straße Nietleben in zwei Hälften. Es heißt, dass Napoleon den Auftrag für den Bau der Achse von Kassel nach Halle gegeben hatte, um sich Nachschubwege für seinen Russland-Feldzug 1812 zu sichern. In der DDR pumpte die Fernverkehrsstraße „F 80“ (heute B 80) die Blechkolonnen durch Nietleben. Die Friedensfahrt rollte durch das Dorf, mit der südlichen Verlegung der Trasse hatte der Spuk ein Ende.

„Es ist deutlich ruhiger und angenehmer geworden“, erzählt Schneidermeister Hans-Joachim Beßler, der direkt an der Hauptstraße wohnt. Sein Gewerbe in der dritten Familiengeneration hat der 79-Jährige längst aufgegeben, aber die Erinnerungen bleiben. 1976 hatte er die Genehmigung bekommen, wie der verstorbene Vater selbstständig arbeiten zu dürfen.

Was in Nietleben fehlt? „Ein Tante-Emma-Laden für die älteren Leute.“

Und die handwerklichen Fähigkeiten sprachen sich weit über Nietlebens Grenzen herum. Nach der Wende kleidete Beßler Promis wie den Ex-Ministerpräsidenten Christoph Bergner (CDU) ein. Aber auch bei Künstlern, Uni-Professoren und Ärzten der Charité in Berlin nahm der Schneider Maß. Seine Werkstatt ist im Original erhalten geblieben und wirkt mit den betagten Maschinen wie ein Museum, das Neugierige hin und wieder bestaunen dürfen. Was Beßler fehlt? „Ein Tante-Emma-Laden für die älteren Leute.“

Dass in Nietleben der hektische Puls der Zeit weit weniger zu spüren ist als im benachbarten Halle-Neustadt, bringt dem Stadtteil viel Sympathie ein. Ende 2016 lebten laut Statistik der Stadt etwas über 2.600 Einwohner im westlichen Zipfel von Halles Hoheitsgebiet.

Auch Krimiautor Stephan Ludwig hat sich in Nietleben niedergelassen

Auch Krimiautor Stephan Ludwig hat sich in Nietleben niedergelassen. Ob der Schriftsteller von der Idylle wohl für seine blutrünstigen Zorn-Romane inspiriert wird? Eckart Grohmann zuckt mit der Schulter und lächelt. Die Filme habe er gesehen, aber noch keines der Bücher gelesen. Das mag auch daran liegen, dass der Heimatverein mit seinen 30 Mitgliedern enorm umtriebig ist (Nietleben hat zudem den Sportverein Askania und einen Reitverein).

Der Heimatverein gibt Publikationen wie den Heide-Boten, aufwendig gestaltete Kalender, aber auch Postkarten heraus. Und die Mitstreiter sind mit offenen Augen unterwegs, schaffen beispielsweise Sitzmöglichkeiten für Wanderer am Eingang der Heide.

Nietleben: Das grüne Herz schlägt

Hier, wo das satte Grün des Frühlings die Erholungssuchenden umarmt, ist Nietleben am schönsten. Im Heidebad ist der Sand fast so weiß wie an der Ostsee. Eckart Grohmann empfiehlt den Aufstieg hinauf zum Kirschberg, eine ehemalige Abraumhalde des Bergbaus, angelegt in Terrassen. Gemütlich läuft man hinauf, überwindet etwa 50 Höhenmeter und wird mit einer grandiosen Fernsicht belohnt. „Silvester oder zum Laternenfest, wenn über Halle das Feuerwerk aufsteigt, ist es hier oben richtig voll“, sagt Grohmann. Von Nietleben selbst sieht man nur noch vereinzelt die Hausdächer.

Die Kiefern auf dem Gelände des Heidebads sind so hoch gewachsen, dass sie den direkten Blick auf den Ort versperren. „Man könnte auf dem Kirschberg ja einen Aussichtsturm wie den Kolkturm in der Heide aufstellen. Das wäre sicher ein Magnet“, glaubt der 65-Jährige. Träumen müsse doch erlaubt sein, findet er. Was er sich sonst noch wünscht? Einen Anlaufpunkt für das gesellschaftliche Leben, einen Ort der Begegnung. „So etwas haben wir nicht“, sagt Grohmann. Und so ist das Heidebad zum Treff für den alltäglichen Plausch geworden. „Aber wir wollen nicht klagen. Nietleben gehört zu den schönsten Ecken in Halle.“ Da lässt es sich auch verschmerzen, dass aus dem einst größten Stadtteil heute einer der flächenmäßig kleinsten geworden ist. (mz)