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Fahndung in Halle Häftling in Halle auf der Flucht: Warum wusste niemand, dass es nicht seine erste Flucht war?

Von Oliver Müller-Lorey 06.06.2018, 11:00
Polizisten am Eingang des Gerichts.
Polizisten am Eingang des Gerichts. Oliver Müller-Lorey

Halle (Saale) - Im Eingang der Kanzlei von Rechtsanwalt Lutz Einsporn hängt ein Poster vom berühmten U.S.-Gefängnis „Alcatraz“. Keinem einzigen Häftling ist von dort jemals die Flucht gelungen.

Die hohen Sicherheitsvorkehrungen und die Lage der Anstalt auf einer Insel machten einen Ausbruch unmöglich. Am Landgericht Halle scheint die Flucht dagegen einfacher zu sein

Am Dienstagmorgen türmte um kurz vor 9 Uhr ein 33-jähriger Untersuchungshäftling wenige Minuten, bevor seine Verhandlung begann.

Der Mann soll etwa 1,83 m groß sein, braune Haare haben und mit einem grünen T-Shirt bekleidet sein. Hinweise zum Gesuchten nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Hinweise an die Polizei unter 03452242000. 

Handschellen von Häftling in Mülleimer gefunden

Die Polizei suchte mit einem Großaufgebot, mit Hubschraubern und Spürhunden nach dem mehrfach Vorbestraften - vergeblich. Bis zum Mittwochmorgen blieb der Mann verschwunden und schlimmer noch: die Handschellen, die er während seiner Flucht noch getragen hatte, fanden Polizisten nach MZ-Informationen am Dienstagmittag geknackt in einem Mülleimer.

Das sagt der Anwalt des entflohenen Häftlings zum Vorfall

Wie seinem Mandanten die Flucht überhaupt gelingen konnte, das ist Anwalt Einsporn ein Rätsel. „Ich stand mit ihm auf dem Flur, er mit Handschellen, und habe mich mit ihm unterhalten. Da hat er plötzlich einen Satz zur Seite gemacht und ist weggerannt“, erinnert er sich.

Zwei Justizbeamte, die etwa zwei Meter daneben gestanden hätten, seien sofort hinterhergerannt.

„Aber sie waren nicht schnell genug. Er ist durch ein Treppenhaus nach unten und durch eine Tür, die direkt zur Rathausstraße führt, entkommen.“ Bei dem Ausgang handle es sich um eine eigentlich nur von Justizangestellten genutzte und von innen unverschlossene Tür.

Häftling auf der Flucht: Landgericht Halle räumt Fehler ein

Das Landgericht räumt noch am Dienstag Fehler ein: „Die Entscheidung, das Gespräch zwischen dem Angeklagten und Verteidiger auf dem Flur stattfinden zu lassen, stellt sich im Nachhinein als risikobehaftet heraus, weil der Angeklagte dadurch das Überraschungsmoment für sich zur Flucht nutzen konnte“, sagt Silvia Kochale, stellvertretende Sprecherin des Gerichtes.

Der Umfang der Sicherungsmaßnahmen richte sich nach der Schwere der vorgeworfenen Tat und der „Besonderheiten des Täters“. „Dem Landgericht waren solche zum Zeitpunkt der Vorführung am Morgen nicht bekannt“, so Kochale.

Häftling war schon 2007 aus Gefängnis in Dessau ausgebrochen

Offenbar ein verhängnisvoller Umstand, denn es ist nicht die erste Flucht des Mannes. Er war bereits im Juli 2007 aus dem Gefängnis in Dessau ausgebrochen, in dem er wegen räuberischer Erpressung einsaß.

Nach MZ-Informationen soll er auch einen bewaffneten Raubüberfall mit einer Pistole auf dem Kerbholz haben, für den er lange im Gefängnis gesessen haben soll. Aus der JVA Dessau war er damals über eine fünf Meter hohe Mauer getürmt.

Warum wusste am Landgericht niemand etwas von der ersten Flucht?

Doch von dieser Vorgeschichte wusste am Dienstag niemand etwas am Landgericht, wie das Justizministerium bestätigt.

Bei der Entlassung von Straftätern müssten alle Fotos und elektronischen Daten aus Datenschutzgründen nach zwei Jahren gelöscht werden, sagt Jana Pietzsch, stellvertretende Ministeriumssprecherin. Die Daten würden danach nur noch in Papierform in den Archiven der entlassenden Gefängnissen vorliegen.

Bereits in der Vergangenheit sind Häftlinge getürmt.

März 2002: Mit Tischbeinen wollen zwei Häftlinge die Mauer aufstemmen. Justizbeamte finden Gesteinsbrocken unterm Bett.

Oktober 2013: Ein 19- und ein 21-Jähriger fliehen aus der Jugendarrestanstalt im Roten Ochsen. Wenige Stunden nach dem Ausbruch werden sie in Neustadt aufgegriffen.

Februar 2014: Ein Gefangener aus Raßnitz entkommt seinen Bewachern bei einem Termin am Amtsgericht Merseburg.

August 2016: Die Polizei fasst in Dessau einen Mann, der bei einem Krankenhausaufenthalt aus der JVA Halle geflohen war.

Ministerium sieht keine Fehler bei den Sicherheitsvorkehrungen

Doch selbst wenn man von der früheren Flucht des Mannes gewusst hätte, seien keine anderen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, sagt Pietzsch: „Die Fesselungsart an Händen und Füßen setzt eine konkrete Gefahr voraus, so dass auch bei Kenntnis über eine Flucht von vor über zehn Jahren die Fesselung an den Händen und die Bewachung durch Bedienstete als angemessen einzustufen ist.“

Ob eine Gefahr von dem Mann ausgeht, wollte das Ministerium nicht bewerten. „Eine Antwort dazu wäre reine Spekulation.“

Flüchtiger saß wegen zwei Haftbefehlen in U-Haft

Einsporn hingegen kennt seinen Mandanten, den er seit Jahren verteidige, gut. Er sei abhängig von harten Drogen und am Wochenende wegen zweier Haftbefehle in Untersuchungshaft gekommen. Einer beziehe sich auf Delikte der Beschaffungskriminalität, der andere, weil sein Mandat nicht zu einem Prozess gekommen sei.

Die Verhandlung, vor der er nun Reißaus genommen hat, habe damit aber nicht zu tun. Das sei eine Berufung gegen ein Urteil, das länger zurückliege, gewesen. Die Berufung sei nun natürlich nicht mehr möglich, schätzt der Anwalt ein. (mz)

Mehrere Dutzend Polizisten suchten rund um das Landgericht nach dem entflohenen Häftling. Auch ein Hubschrauber und Hunde waren im Einsatz.
Mehrere Dutzend Polizisten suchten rund um das Landgericht nach dem entflohenen Häftling. Auch ein Hubschrauber und Hunde waren im Einsatz.
Oliver Müller-Lorey