Graffiti in Halle Graffiti in Halle: Obwohl meist illegal -Sprayer wollen Lebensraum mitgestalten

Halle - Er steht auf einem leeren Parkplatz, mitten in der Innenstadt von Halle, und zeigt auf eine der angrenzenden Häuserwände. Die ist mit den verschiedensten Schriftzügen bemalt. Bunt, zum Teil kryptisch. Eines der Werke stamme von ihm.
Doch welches, das möchte Pokedexer nicht verraten, genauso wenig wie seinen bürgerlichen Namen. „Ich bin ein Writer“, sagt er und beschreibt so seine Leidenschaft - und die ist nicht immer legal. Denn der Mann Mitte 20 ist seit elf Jahren in der Graffiti-Szene unterwegs.
Graffiti ohne Einverständnis des Eigentümers fällt unter Sachbeschädigung
Erst in Berlin, seit rund fünf Jahren in Halle. Sein Ausdrucksmittel: Buchstaben an Wänden. Wo? In der Öffentlichkeit. Ohne Einverständnis des Eigentümers fällt das unter den Paragrafen 303 im Strafgesetzbuch - Sachbeschädigung.
Die Polizei in Halle gibt an, dass es im vergangenen Jahr 736 Verfahren wegen illegaler Graffiti gab, die abschließend bearbeitet wurden. Im Vorjahr seien 672 solcher Verfahren statistisch erfasst worden, so die Polizeisprecherin Lisa Wirth.
Graffiti in Halle: Sprayer "Pokedexer" spricht von einer Lebensphilosophie
„Graffiti ist vorwiegend illegal“, sagt Pokedexer. Er macht es trotzdem. „Das ist eine Lebensphilosophie. Wenn man einmal ernsthaft infiziert ist, richtet sich das ganze Leben danach“, so der Sprayer. Und ihm gehe es dabei vor allem um eines: „Visueller Aufstand“. Er betrachte das Graffiti malen als friedlichen Protest.
Denn er wolle seinen Lebensraum mitgestalten. Aber er weiß auch: „Es geht um Eigentum.“ Das nicht jeder seine Werke schön findet, kümmert ihn weniger. Kann er denn verstehen, wenn sich ein Hausbesitzer über die Zeichen an der Wand aufregt? „Ja, klar. Wenn sich jemand daran stört, dann kann er einen Eimer Farbe nehmen und es übermalen.“
Wegen Graffiti: Reinigungskosten von 50.000 Euro in Halle
An städtischem Eigentum seien aufgrund von illegaler Graffiti im Jahr 2017 Reinigungskosten von rund 50.000 Euro entstanden. Diese Zahl nennt Christiane Lütgert, Leiterin des Teams Stadterneuerung.
Die Eigentumsverhältnisse von Gebäuden seien ein zentraler Punkt, wenn es um die Wahrnehmung von Graffiti in einer Stadt gehe, sagt Reinhold Sackmann. Er ist Soziologie-Professor an der Universität Halle und hat sich wissenschaftlich mit der Graffiti-Szene in Mitteldeutschland auseinandergesetzt.
HWG will Graffiti in Halle möglichst schnell beseitigen
„Wichtig für ein massenhaftes Verbleiben von Graffiti in einer Stadt, und dadurch die Sichtbarkeit, sind Hauseigentümer, die sich nicht um die Gebäude kümmern“, so Sackmann. Das habe beispielsweise mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen zu tun.
Und auch ein hoher Leerstand spiele eine Rolle. „Es macht einen Unterschied, ob die Graffiti nach einem oder zwei Tagen weg sind oder mehrere Wochen bleiben“, so Sackmann. Bei der Halleschen Wohnungsgesellschaft (HWG), dem größten Vermieter der Saalestadt, versuche man möglichst schnell Graffiti zu beseitigen, so der Pressesprecher Steffen Schier.
Immer mehr Graffiti in Halle
Im Jahr 2016 seien es rund 400 gewesen, die entfernt wurden. Im folgenden Jahr tendenziell mehr, so Schier. Im Handeln der Graffiti-Sprüher erkennt Sackmann die folgende Motivation: „Werbung für das Selbst. Der Grundimpuls ist ein sehr menschlicher, nämlich Ich zu sagen.“
Es gehe vor allem um die Sichtbarkeit. So würden beispielsweise auch Züge oftmals als Leinwand der Graffiti-Sprüher dienen. „Denn die tragen die Botschaft in die Welt hinaus“, sagt Sackmann.
Graffiti ein ästhetisches Phänomen
Als Kunst würde er Graffiti nicht bezeichnen, eher als ästhetisches Phänomen. Begrifflich unterscheidet er deshalb auch Graffiti von Urban Art. In letzterer ginge es eher um eine komplexe Bildsprache, so Sackmann.
Das zeigt sich beispielsweise an den zahlreichen Fassadenbildern in Halle, die er zur Urban Art zählt. Groß, bunt, erzählen sie eigene Geschichten. Verantwortlich für viele dieser Wandbilder ist das Team der Freiraumgalerie, beziehungsweise seit diesem Jahr „Freiraumgalerie - Kollektiv für Raumentwicklung GbR“.
Urban in Halle: Wandbilder zuerst in Freiimfelde
Angefangen hat deren Arbeit in Freiimfelde, um 2012 herum. Damals der Stadtteil mit dem höchsten Leerstand in Halle. Im Jahr 2008 lag dieser bei 43 Prozent.
Der Graffiti-Künstler und Stadtplaner Hendryk von Busse kam für seine Abschlussarbeit dorthin und warf die Frage auf: Welchen Einfluss kann Urban Art auf die Entwicklung eines Stadtteils haben? Um ihn herum taten sich Künstler, Pädagogen und viele weitere zusammen.
Urban in Halle: Lebensraum soll mitgestaltet werden
Auch sie wollten ihren Lebensraum mitgestalten. Sie bezogen Hauseigentümer und Bewohner mit ein und machten Freiimfelde bunt. Die Zahlen zeigen: Es hat funktioniert. Der Leerstand im Stadtteil betrug im Jahr 2017 21 Prozent.
Die prozentuale Zunahme an Bewohnern ist die höchste im innenstädtischen Bereich. Sie liegt bei 33 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. „Urban Art wirkt als Impulsgeber für die Stadtentwicklung und führt zur Aufwertung von Stadtteilen“, so Lütgert.
Urban in Halle: Wandbilder regen zur Diskussion an
„Bunt ist immer besser als grau“, sagt Philipp Kienast. Er ist Teil des derzeit fünfköpfigen Kernteams der Freiraumgalerie und beschreibt deren Arbeit: „Kunst war jeher das Mittel der Wahl. Wir setzen auf Wandbilder als unser Medium.“ Warum? „Wandbilder sind unmittelbar. Sie regen zur Diskussion an“, so Kienast.
Das Team der Freiraumgalerie betrachtet sich auch als Organisator von Kunst im öffentlichen Raum. Denn sie bringen Hauseigentümer und Künstler zusammen. Veranstalten Festivals, wie das „All you can plant“ in diesem Jahr. Und sie machen Bildungsarbeit rund um das Thema Urban Art.
Urban in Halle: Weitere Projekte in der Voßstraße
Inzwischen beschränkt sich der Wirkungskreis nicht mehr nur auf Freiimfelde. So befindet sich eines der derzeitigen Projekte in der Voßstraße. Dort sollen in diesem und im kommenden Jahr vier Wohnblöcke der HWG zum Kunstwerk werden. Mehr als 4 100 Quadratmeter Fassadenfläche.
Auch bei diesem Vorhaben wurden die Anwohner miteinbezogen. „Kunst ist etwas Identitätsstiftendes für ein Quartier und für die Bewohner, wenn sie gerne drauf schauen“, so Steffen Schier von der HWG.
Akzeptanz für Graffiti in Halle steigt
Auch für Pokedexer habe die Arbeit der Freiraumgalerie positive Effekte. So sagt er, dass die Akzeptanz der Leute in Halle für die Graffiti-Sprayer größer geworden sei. „Ich kann mich zum Beispiel auf die Brache stellen und malen. Die Leute gehen nicht gleich an die Decke.“
Er wünscht sich mehr Raum für die Graffiti-Sprayer in Halle. Zum Beispiel durch weitere legale Flächen in der Stadt, auf denen das Malen erlaubt ist. Bisher seien das nur fünf, so der Sprayer.
Und auch die Freiraumgalerie blickt in die Zukunft: „Wir wollen noch mehr Bildungsarbeit machen und dafür neue und innovative Formen finden“, sagt Kienast. Zudem sollen auch in weiteren Teilen von Halle die Fassaden bunt werden. (mz)
