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Extremsituationen und Todesfälle Extremsituationen und Todesfälle: Steven Grahl aus Halle leistet Erste Hilfe für die Seele

Von Christiane Rasch 13.07.2017, 18:00
Steven Grahl wurde Notfallseelsorger nachdem er selbst nach einem Feuerwehr-Einsatz Hilfe benötigte.
Steven Grahl wurde Notfallseelsorger nachdem er selbst nach einem Feuerwehr-Einsatz Hilfe benötigte. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Es ist oft nur eine Frage der Zeit, bis ein Helfer zum ersten Mal selbst Hilfe braucht. Bei Steven Grahl ist es am 29. November 2014 soweit. Mit der Freiwilligen Feuerwehr im halleschen Stadtteil Ammendorf wird er zu einem Großeinsatz im Süden der Stadt gerufen. Ein Wohnungsbrand in einem Hochhaus. Grahl hilft die Bewohner des Elfgeschossers in Sicherheit zu bringen. Als das Feuer gelöscht und die Gefahr gebannt ist, wollen er und ein Feuerwehr-Kollege einen Blick in die ausgebrannte Wohnung werfen. Doch kaum betreten sie die verkohlten Zimmer, drehen sie um. Was beide bis dahin nicht wissen: In den Räumen liegen drei verbrannte Leichen.

Steven Grahl lenkt als Notfallseelsorger andere wieder in eine Bahn

Als am selben Abend die gesamte Ortswehr zusammenkommt, ist ein Notfallseelsorger dabei. Vor ihm öffnen sich die Männer, sprechen über das Erlebte. Groß ist der Redebedarf bei Grahls Kameraden. Er selbst schweigt. Und doch hinterlässt die Begegnung mit dem Seelsorger auch in ihm Spuren. In dem jungen Mann reift der Entschluss, selbst auf diese Weise helfen zu wollen.

Eineinhalb Jahre und eine Fortbildung später ist es soweit. Seit April 2016 lenkt er als Notfallseelsorger andere wieder in eine Bahn. Ehrenamtlich begleitet Grahl Menschen nach Unfall, Tod oder Gewaltverbrechen. Auch für Großeinsätze wie vor gut einer Woche bei dem verheerenden Busunglück auf der A 9 in Nordbayern steht er zur Verfügung, um Hinterbliebenen und Einsatzkräften von Feuerwehr und Rettungsdienst Beistand zu leisten.

Kollegen aus Sachsen waren es, die den Angehörigen die Todesnachricht überbringen mussten. Als Grahl von dem Unglück erfuhr, drehten sich seine Gedanken zunächst aber um eine ganz andere Gruppe: „Ich habe zuerst an die Unfallzeugen gedacht, weil diese gern vergessen werden.“ Auch sie seien betroffen, obwohl sie zumindest auf den ersten Blick nicht verletzt oder betroffen sind. „Man sollte auf jeden Fall nachfragen, ob auch sie Redebedarf haben.“

Notfallseelsorger oft bei Todesfällen im häuslichen Bereich im Einsatz

Spektakuläre Unfälle wie auf der A 9 bei Münchberg aber sind selten - selbst für Seelsorger. Bei den meisten Einsätzen handelt es sich um Todesfälle im häuslichen Bereich. Oft trifft Grahl dabei auf Menschen, deren Partner nach vielen gemeinsamen Jahren unerwartet verstorben sind. „Es ist der Moment, in dem ihr Leben einen Ruck macht und sie nicht wissen, wie sie weitermachen sollen“, sagt der 26-Jährige.

In der Regel fordern ihn Notärzte an, wenn ein Betroffener am Einsatzort seelischen Beistand braucht. Über einen Anruf der Rettungsleitstelle wird Grahl informiert. Schon am Telefon versucht er herauszufinden, was ihn erwarten wird. Was ist passiert? Wen muss ich betreuen? Dann geht es nur darum, so schnell wie möglich am Einsatzort zu sein.

Es ist eine Aufgabe, die nur wenige Gleichaltrige freiwillig auf sich nehmen würden. Unter den Seelsorgern zählt Grahl zu den Jüngsten, das Mindestalter liegt bei 25 Jahren. Mit seinem Bürstenschnitt wirkt er sportlich, das Gesicht fast noch jungenhaft. Sein Alter aber sei nie ein Problem gewesen, wenn er Betroffenen nach einem Schock die ersten Schritte zurück ins Leben aufgezeigt hat.

Grahl: „Bei uns wurde ausgesprochen, wie es ist: Tod ist etwas normales“

Während sich andere davor verschließen, hat sich der gebürtige Tangerhütter früh mit dem Thema Tod auseinandergesetzt. In der Familie war das nie ein Tabu, auch durch den Beruf der Mutter in der Altenpflege. „Bei uns wurde ausgesprochen, wie es ist: Tod ist etwas normales“, sagt Grahl. „Ich gehe mit Tod und Trauer anders um als viele, ich schlucke das anders weg.“

Hauptberuflich arbeitet Grahl als Kundenbetreuer beim Technologiekonzern Dell in Halle. Das Unternehmen sei sozial, fördere das ehrenamtliche Engagement der Mitarbeiter. Anders würde es auch nicht funktionieren. Als Seelsorger übernimmt er bis zu acht Dienste im Monat. Zwölf Stunden muss er dann bereit sein für den Notfall - selbst wenn er gerade im Büro sitzt. Sobald er gebraucht wird, muss er los.

Bei einem einzigen Einsatz überkam ihn bisher die Angst, der Situation nicht gewachsen zu sein. Es war das erste Mal, dass während seines Dienstes ein Kind starb - nach langer, schwerer Krankheit. Grahl sollte sich um die Eltern, ein syrisches Paar, kümmern. In ihm kamen Zweifel auf. Was, wenn er ihnen nicht helfen kann? Wenn die Verständigung nicht funktioniert? Die Zweifel waren unbegründet. Als er kam, nahm die Familie in einer Zeremonie bereits Abschied. Grahl nennt es „eine wundervolle Art, mit Trauer umzugehen“. Seine einzige Aufgabe war es, ihnen dafür genug Ruhe zu verschaffen.

Die einzige Frage, die Grahl sich stellt: Was tut dem Menschen jetzt gut?

Dabei verlässt er sich auf seine Intuition: „Ich kriege relativ schnell eine Ahnung, wie ich mit den Menschen umgehen muss.“ Manche schweigen und brauchen tröstende Worte, aus anderen sprudelt es nur so heraus. Einen Ablaufplan, an den sich der Seelsorger bei Einsätzen hält, gibt es nicht. Die einzige Frage, die er sich stellt: Was tut dem Menschen jetzt gut? Es kann die Hand sein, die er hält, während die Mutter am Bett ihrer verstorbenen Tochter steht - solange, bis sie bereit ist Abschied zu nehmen und er den Bestatter ruft.

Manchmal gehe es aber auch witzig zu, sagt Grahl. Er erinnert sich an einen Einsatz bei einer älteren Frau, deren Mann nicht mehr aufgewacht war. Als der 26-Jährige in die Wohnung kam, bot sie ihm Hausschuhe an. Das einzig passende Paar aber steckte noch an den Füßen des Verstorbenen. Kurzhand zog die Ehefrau die Schuhe ab und reichte sie Grahl. Wenig später saß der Seelsorger in der Küche, während die Frau Hähnchenschenkel zubereitete. Die hatte sie am Vorabend nur für ihren Mann aufgetaut. Während dieser tot im Nebenraum lag, aßen Grahl und sie gemeinsam. Für Außenstehende bizarr. Für die Ehefrau war es ein Stück Normalität.

Bei diesen Begegnungen baut sich in kürzester Zeit eine persönliche Bindung auf. Natürlich, er habe auch mal einen Kloß im Hals. „Aber wenn ich die Tür hinter mir zumache, kann ich die Emotionen ablegen und das Positive mitnehmen. Ich weiß, ich habe Gutes getan.“

Woher aber weiß er bei Einsätzen, wann er Menschen wieder sich selbst überlassen kann? „Wenn ich merke, dass sie wieder handlungsfähig sind. Wenn sie mir nach vier Stunden Gespräch plötzlich ein Wasser anbieten, weiß ich, sie kommen langsam zu sich zurück.“

Supervision für Seelsorger

Ist der Einsatz beendet, legt er seine kleine schwarze Seelsorger-Tasche ins Auto. Taschentücher, Knoppers, Plüschtier, Stift und Grablicht hat er immer dabei. Auch seine „Maske“, die gedankliche Uniform, legt er ab, atmet tief durch und macht weiter wie zuvor. Wie es den Menschen danach ergangen ist, will er nicht wissen. „Es ist eine Art Selbstschutz. Ich muss das hinter mir lassen. Sonst schleppe ich einen Koffer mit offenen Einsätzen mit mir rum.“

Ein Fall aber beschäftigte ihn länger: Es waren zwei Jungs, deren Mutter an Depressionen litt und sich das Leben genommen hatte. Die Söhne hatten ihr zuvor zu helfen versucht , indem sie sie mit Aufgaben auf Trab hielten. Nach dem Freitod der Mutter Tod sagt Grahl den Söhnen immer wieder, dass sie das gut gemacht hätten. Doch sie reagierten nicht. Über seine Eindrücke sprach er bei einer Supervision - einem Austausch unter Seelsorgern. „Das hilft, andere Blickwinkel zu bekommen“, sagt er. Durch die Gespräche verstand er: Die Jungs glaubten, versagt zu haben.

Leichter fiel ihm sein letzter Fall: Eine Witwe, deren Mann nach einem Herzinfarkt verstorben war. Nach wenigen Stunden war Grahls Arbeit getan und seine schwarze Tasche im Kofferraum verstaut. Dort bleibt sie - bis das Telefon das nächste Mal klingelt.

1000 Einsätze im Jahr für Notfallseelsorger in Sachsen-Anhalt

Circa 380 Notfallseelsorger gibt es derzeit in Sachsen-Anhalt. Diese sind in 23 regionalen Teams organisiert. „Nicht immer sind das Menschen aus sozialen Bereichen. Die Spanne reicht vom Richter bis zur Verkäuferin“, erklärt Thea Ilse. Die Landesbeauftragte für Notfallseelsorge gehörte zu den ersten Mitgliedern der Ortsgruppe in Halle, die vor 19 Jahren gegründet wurde.

Auslöser war ein Unglück im Jahr 1997, bei dem ein Fallschirmspringer vor dem halleschen Stadion in die Fan-Menge gestürzt war. Damals war der Bedarf an Notfallseelsorgern groß. Das hat sich bis heute nicht geändert: Rund 1 000 Einsätze pro Jahr gibt es allein in Sachsen-Anhalt. Mehrmals im Jahr werden deshalb neue Mitarbeiter ausgebildet. Diese müssen mindestens 25 Jahre alt und psychisch stabil sein. Zudem sollten sie kürzlich keine persönliche Krise durchlebt haben.

Interessierte können sich an Thea Ilse, Landespolizeipfarrerin und Beauftragte für Notfallseelsorge, wenden. Kontakt unter: 0345/5220908, oder per Mail: [email protected](mz)