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Das weiße Wunder Das weiße Wunder: Wie zwei Hallenser vor 45 Jahren das Auto der Zukunft bauten

Von Steffen Könau 31.03.2019, 06:00
Wolfgang Scharnowski vor dem „Rovomobil“, das wieder aufgebaut wurde. Er ist der Sohn von  Eberhardt Scharnowski, der vor 45 Jahren den Wagen konstruierte. Zum Aufbau-Team gehört auch Holzexpertin Lisa Welzig.
Wolfgang Scharnowski vor dem „Rovomobil“, das wieder aufgebaut wurde. Er ist der Sohn von  Eberhardt Scharnowski, der vor 45 Jahren den Wagen konstruierte. Zum Aufbau-Team gehört auch Holzexpertin Lisa Welzig. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Nein! Nein! Nein! Der Ruf, den Wolfram Scharnowski und Ronald Maibaum wie aus einem Munde ausstoßen, klingt nicht nur wie eingeübt, er ist es. „Das ist doch das erste, was jeder sagt, der es sieht“, beschreibt Scharnowski und er wedelt mit der Hand hinüber, wo „es“ steht:

Ein weißer Traum von einem Sportwagen, mit Linien wie die Wellen einer Sanddüne, elegant und mutig tailliert. Ein Melkus? Nein! Nein! Nein! Die flache Flunder, strahlend weiß im Halbdunkel der Werkstatt, in der Scharnowski und sein Mitschrauber Maibaum gerade die erste Ausfahrt des Jahres vorbereiten, ist kein Wartburg Melkus, kein unbekannter Porsche Prototyp und auch kein Fantasiegefährt aus einem Fantomas-Film.

Sondern ein echter Hallenser, an der Saale entwickelt, gebaut, für viele Jahre verloren gegangen und schließlich glücklich wiederentdeckt.

Langjähriger Weltrekordhalter „Rovomobil“ aus Halle ist Unikat

Der „Rovomobil“ genannte Wagen ist ein Unikat, ein Fahrzeug, das selbst vier Jahrzehnte nach seiner Jungfernfahrt noch wie ein Besucher aus der Zukunft wirkt.

Ausgedacht in der DDR der 70er Jahre, dem Land von Trabi-Tristesse und Wartburg-Sehnsucht, war der Viersitzer am Tag seines ersten Fahrversuches im Sommer 1976 sofort Weltrekordhalter. Das Rovomobil kommt auf einen Luftwiderstandsbeiwert von nur 0,23.

Zum Vergleich: Beim Trabant 601 wurden seinerzeit 0,5 gemessen, ein Golf erreicht heute knappe 0,33 und ein Mercedes E 200 auch nur 0,27. Erst die Mercedes A-Klasse Jahrgang 2018 unterbot den schnittigen Schlitten von der Saale, der aussieht wie ein Sportwagen, im Inneren aber vier Sitze und durchaus Limousinenformat hat.

Scharnowski und Arndt: „Rovomobil“ entstand, um Enttäuschung zu verdrängen

Das war auch das Ziel der beiden Burg-Professoren Eberhard Scharnowski und Klaus Arndt, als sie 1973 beschlossen, das Auto, das es im DDR-Handel nicht gab, dann eben selbst zu bauen. Kurz zuvor, schilderte der inzwischen verstorbene Eberhard Scharnowski später, hatte die DDR den Versuch gestoppt, ein Kunststoffsegelflugzeug entwickeln zu lassen.

Teile, die an der damaligen Hochschule für industrielle Formgestaltung von Scharnowski und Arndt gemeinsam mit Studenten konstruiert worden waren, wurden einfach verschrottet. „Um die Enttäuschung zu verdrängen und das angehäufte Fachwissen zu nutzen, entschlossen wir uns, in unserer Freizeit eine aerodynamisch vorteilhafte Karosserie aus Glasfaserkunststoff zu entwickeln.“

Es steht kein Großkonzern hinter dem Experiment, kein Kombinat, ja, nicht einmal ein kleiner VEB. Nur zwei Männer und ein verrückter Plan. Arndt und Scharnowski finden nach monatelanger Suche eine zum Abriss vorgesehene ehemalige Feilenhauerei in einem Hinterhof am halleschen Franckeplatz. Oben im erstem Stock wird das nach dem Glasfaserverbundstoff Roving - einem Gewebe aus Buna-Polyester und Oschatzer Glastextilien - benannte Einzelstück gebaut.

Am Anfang war das Ei - so entstand das „Rovomobil“

Am Anfang steht ein eiförmiger Gipsbrocken, aus dem die Autobauer bei „reiner Kuchen- und Bierernährung“ (Scharnowski) freihändig ein 1:5-Modell kratzen. Daraus entsteht ein Großmodell aus Sperrholz, Karnickeldraht und Gips. Nach Monaten der Feinarbeit gießen die beiden Hobby-Autobauer schließlich unter Zuhilfenahme von 300 Kilogramm Braunkohle, um die provisorische Werkstatt kurzzeitig auf 70 Grad aufzuheizen, aus 100 Kilogramm Rovinggewebe und 200 Kilogramm Harz die Außenhaut von Rovomobil 1.

Der edle Eigenbau mit 850 Kilogramm Gesamtgewicht ist ein Best-of der Automobilindustrie des Ostblocks mit Dacia-Sicherheitsgurten, Polski-Fiat-Blinkern, Lada-Außenspiegeln und Wartburg-Scheibenwischern aus der seitenverkehrten Exportproduktion für Großbritannien. Der Clou aber ist: Die Karosserie besteht aus zwei Schalen - und auch die untere, die den Fahrzeugboden bildet, ist so glatt, dass es kaum Wirbel gibt, die den Luftwiderstand bei normalen Fahrzeugen bis heute erhöhen.

Insgesamt holt das Rovomobil so knapp 40 Prozent mehr Leistung aus derselben Menge Sprit. „Die Größe der Schalen“, beschrieb Erbauer Scharnowski später, „wurde so bemessen, dass jede Hälfte hochkant durch die Zimmertüren passte.“ Anders wäre das Rovomobil nicht aus dem 1. Stock gekommen.

Rovomobil darf nicht auf Titelseite 

Das mit einem zufällig vorhandenen Käfer-Motor ausgerüstete Auto ist ein Quantensprung im Automobilbau. Auf den die DDR allerdings weder gewartet hat noch eingerichtet ist. „Mein Vater schaffte es, in ein paar Fachzeitschriften erwähnt zu werden“, erinnert sich Sohn Wolfram Scharnowski. Aber obwohl sich daraufhin sogar Entwickler von BMW aus dem Westen melden, springt die Ampel auf Rot. Zwar dürfen Scharnowski und Arndt, für den ein zweiter Prototyp gebaut wird, der den Namen Rovomobil 2 bekommt, weiter mit ihren extravaganten Autos herumfahren, denn die haben eine Straßenzulassung der Behörden bekommen.

Doch um „keine Bedürfnisse in der Bevölkerung zu wecken“, wird ein Bild des Rovomobil von der Titelseite des Magazins „Kraftfahrzeugtechnik“ genommen. Kein Gedanke mehr daran, auch nur die geplante Kleinserie zu bauen, die statt des VW-Motors eine Skodamaschine hätte haben können. Die automobile Revolution fällt aus.

Nach dem Mauerfall: VW-Museum interessiert sich für Rovomobil

„Mein Vater hat mit dem Rovomobil Baumaterial gefahren, bis das VW-Museum in Wolfsburg nach dem Mauerfall Interesse anmeldete.“ Rovo 2 steht da schon einige Jahre in einer Garage in Schwerin, abgemeldet, eingemottet und vergessen. Bis Wolfram Scharnowski, hauptberuflich Ingenieur und nebenher begeisterter Schrauber, von seinem Vater erfährt, dass die fantastische Flunder aus Kindertagen eigentlich noch vorhanden sein müsste, „irgendwo beim Klaus“, wie Scharnowski senior sagt.

Wolfram Scharnowski beschließt, die Legende wieder zum Leben zu erwecken. Gemeinsam mit Ronald Maibaum, der Holzexpertin Lisa Welzig und dem Polsterer Kai Ebel hat der 54-Jährige noch einmal mindestens die 3 000 Stunden in das Rovomobil 2 gesteckt, die sein Vater und dessen Mitentwickler Klaus Arndt einst investiert hatten.

„Die Karosserie war natürlich in Ordnung“, scherzt Maibaum, „da kann ja nicht viel verrosten.“ Aber der Rest! Die Bremsen unvollständig, das Fahrwerk wacklig, im Motor ein Loch. „Da war die Stimmung erstmal am Boden“, kommentiert Scharnowski.

Rovomobil bekommt Spiegelhalter aus dem 3D-Drucker

Aber Aufgeben galt nicht. Über Bekannte wurde ein neuer Motor gefunden, eine neue Motoraufhängung konstruiert und eine neue Hinterachse eingebaut. Neue Spiegelhalter kamen aus dem 3D-Drucker. „Nach einem halben Jahr ist das Rovomobil dann zum ersten Mal nach 28 Jahren wieder aus eigener Kraft gefahren“, sagt Wolfram Scharnowski.

Und nach einem Jahr hatte das einzigartige Gefährt sogar wieder Tüv und Zulassung und die beiden Macher die Vision, in Zeiten des Umstiegs auf Elektroantriebe, die noch immer unter schwachbrüstigen Batterien leiden, mit dem Design aus Halle zeigen zu können, wie viel Sparpotential noch im Karosseriebau steckt. „Beim Rovomobil ist es ja so, dass es nicht mehr stehenbleibt, wenn es erstmal in Fahrt ist.“

Ein rollendes Wunder, das Aufsehen erregt, wo immer es auftaucht. Immer, schmunzelt Wolfram Scharnowski, falle dann dieser Satz, der mit dem Wort Melkus endet. „Und jedes Mal sagen wir noch vorher: Nein, ist es nicht.“ (mz)

Wolfram Scharnowski und Klaus Arndt mit den beiden Rovomobilen im Wolfsburger Volkswagen-Museum.
Wolfram Scharnowski und Klaus Arndt mit den beiden Rovomobilen im Wolfsburger Volkswagen-Museum.
A. Rennicke