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Das große Geheimnis Das große Geheimnis: Forscher sicher: Sowjets lagerten in Halle Atomsprengköpfe

Von Steffen Könau 03.05.2018, 04:00
Mehr ist nicht geblieben vom Atomgeheimnis im Untergrund von Halle: Steffen Hahn von der Unteren Naturschutzbehörde im Lagerbunker der Sowjetarmee, der heute als Fledermausquartier dient.
Mehr ist nicht geblieben vom Atomgeheimnis im Untergrund von Halle: Steffen Hahn von der Unteren Naturschutzbehörde im Lagerbunker der Sowjetarmee, der heute als Fledermausquartier dient. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Tausend Meter, weiter ist es nicht von der dunklen Kasematte, in der die Nuklearsprengköpfe liegen, bis hinüber zu den Neubaublocks. Unauffällig lugt das Tor durch das Gebüsch, das einen kleinen Hügel verdeckt. Davor Einfamilienhäuser, Swimmingpools, gemähte Wiesen.

Eine perfekte Idylle, wo einst Halles größtes Geheimnis versteckt war: Vermutlich kurz nach dem Bau der Berliner Mauer begann die Sowjetarmee, hier in zwei Bunkern sogenannte Sondermunition zu lagern.

Forscher sicher: In Halle lagerten atomare Aprengköpfe

Nukleare Sprengköpfe für die Raketensysteme Luna-M und später SS-21 seien hier gelagert worden, ist der Historiker Sascha Gunold sicher.

„Dafür spricht die Sorgfalt, mit der die Sowjetarmee beim Abzug versucht hat, Spuren zu beseitigen“, sagt der Bundeswehr-Hauptmann, der aus Blankenburg stammt.

Schon als Kind, erzählt der 30-Jährige, habe er sich für Militärgeschichte interessiert. „In der Nachbarschaft gab es ein Militärobjekt der Sowjetarmee, da war ich neugierig.“

Atomwaffen in Halle - Protokolle von Geheimdiensten weisen die Spur

Bei der Arbeit an seiner Promotion stieß Gunold auf Protokolle von bundesdeutschem BND und amerikanischer DIA, die ihn auf die Atomspur führten.

„1991 hatten die beiden Geheimdienste die Heidekaserne inspiziert und die beiden Erdbunker als Kernwaffenlager identifiziert“, erklärt er.

Was genau hier lag, das weiß auch Sascha Gunold nicht. Als die Sowjetarmee abzog, nahm sie ihre Geheimnisse mit. Dokumente in russischen Militärarchiven sind bis heute unter Verschluss.

Atomwaffen in Halle - offizielle Akten noch unter Verschluss

Bis vor kurzem durften noch nicht einmal die deutschen Unterlagen eingesehen werden. „Die 30-Jahre-Frist ist noch nicht abgelaufen“, sagt Sascha Gunold, der allerdings aus den Berichten der Westgeheimdienste, Stasi-Unterlagen und Zeitzeugenberichten rekonstruieren konnte, welch brisante Ladung die beiden Bunker am Heiderand bargen.

Vermutung: bis zu 40 Sprengköpfe lagerten in Halle

„Ich schätze, dort lagerten zwischen 30 und 40 nukleare Sprengköpfe für Raketenabteilungen im Raum Thüringen.“

Deren ballistische Kurzstreckenraketen konnten atomare Gefechtsfeldköpfe mit der Sprengkraft von einem Viertel bis zum 15-fachen der Hiroshimabombe tragen.

Von Halle aus hätten Raketen zwar kaum oder nur knapp Ziele im Westen erreicht. „Aber dazu waren sie auch nicht gedacht“, sagt ein früherer NVA-Offizier. Sascha Gunold bestätigt: „Man hätte die Raketen zuvor in Gefechtsstellungen verlegt.“

Sowohl bei den im Nato-Code Frog-7 genannten Waffen aus den 60ern wie beim Nachfolger „Totschka“ („Pünktchen“) handelte es sich um Kurzstreckenwaffen, die nicht zur Zerstörung von Städten dienen sollten, gleichwohl aber schreckliche Zerstörungen angerichtet hätten.

Atomsprengköpfe hätten ganze Städte auslöschen können

„Die Totschka wäre auf 25 Kilometer gestiegen und wie ein Stein ins Ziel gestürzt“, sagt der NVA-Mann.

Nach nicht einmal zwei Minuten hätte eine einzige Totschka mit Nuklearsprengkopf eine Stadt wie Göttingen dem Erdboden gleichgemacht. Etwa die Hälfte der Bevölkerung wäre sofort gestorben, zehntausende Menschen in den Tagen danach.

Wie eine Simulation der Internetseite nuclearsecrecy.com zeigt, hätte der Wind den Fallout danach bis hinauf nach Stendal oder zurück nach Halle-Neustadt geweht.

Sowjet-Kaserne in Halle war streng abgeschirmt

Die fast 100.000 Menschen dort wissen zu DDR-Zeiten davon nur, dass hinter der langen Mauer, die ihre Stadt nach Norden begrenzt, eine Garnison der Sowjetarmee einen Kosmos für sich bildet.

Von außen sind die Hochbetten in den Schlafsälen zu sehen, das Röhren der Panzermotoren ist manchmal zu hören und Schüsse aus Kalaschnikows, die seltsam dünn knattern.

Gelegentlich, wenn die Russen, wie die offiziell als „Freunde“ bezeichneten Sowjetsoldaten im Volksmund heißen, Manöver abhalten, ist das Westfernsehen gestört.

Russen blieben in Halle meist auf Distanz zur Bevölkerung

Das Zusammenleben funktioniert durch Distanz. Nur Offiziere dürfen die Kaserne allein verlassen. Dafür lassen sich an der Mauer mit Wachsoldaten Nacktbilder aus dem „Magazin“ gegen bunte Anstecknadeln tauschen.

Dass tausende Angehörige taktischen Raketeneinheiten der 8. Gardearmee in der früheren Heidekaserne von Reichswehr und Wehrmacht leben, ist im Alltag kaum zu spüren. Soldaten und Offiziere trifft der normale Hallenser allenfalls, wenn die Brigade einen Freundschaftsbesuch absolviert, bei dem ein stolzer Offizier den Gästen den Original-Säbel des Reitergenerals Semjon Budjonny präsentiert.

Manchmal sieht man auch schwerbewaffnete Soldatentrupps in der Straßenbahn, weil der Transport-Lkw wieder gleich vor dem Kasernentor liegengeblieben ist.

Atomwaffen in Halle - was wusste die NVA?

Dass Atomwaffen in der Kaserne lagern, wissen offiziell nicht einmal Offiziere der Bruderarmee NVA. Allerdings sei jedem klar gewesen, dass „dort, wo Raketen sind, auch Sprengköpfe sein müssen“, wie der frühere NVA-Mann aus Halle sagt. „Dass da irgendwo nukleare Munition gelagert wird, davon ist man ausgegangen.“

Nicht nur an der Saale, sondern auch in Langley im US-Bundesstaat Virginia. Hier gehen schon im April 1961 Berichte aus Halle ein, wonach abgedeckte Transporter 15 und 25 Meter lange Raketen nach Halle und aus Halle heraus gefahren hätten.

Die Fahrzeuge seien, so ein Informant, später in einem ehemaligen Tagebau bei Blösien nahe Merseburg entdeckt worden. Zudem sei die Firma VEB Bau-Union Halle in Hinsdorf, bei Köthen gelegen, damit beschäftigt, eine Raketenabschuss-Basis zu errichten.

Paul Bergner, Autor von „Befehl Filigran“, dem Standardwerk über den Kalten Krieg im Untergrund, hat über die gesamte DDR verteilt sieben scharfe Atomwaffenlager und sieben vorbereitete Ausweichobjekte gezählt.

Atomwaffen in Halle - wurden Sprengköpfe dauerhaft hier gelagert?

Ob allerdings in Halle Sondermunition dauerhaft gelagert wurde? Bergner hält es zumindest für denkbar: „Die Lagerung in den Transportcontainern war problemlos auch über längere Zeit möglich.“

Wichtig sei den Militärplanern gewesen, die wertvollen Sprengköpfe nicht zentral zu lagern, beschreibt auch ein Szenekenner, der nach der Wende rund um Wittenberg nach Spuren von Atomwaffen gesucht hat. Vermutlich seien die Geschosse aus der Heide tatsächlich für die Einheit gedacht gewesen, die in Wörmlitz stationiert war.

Sascha Gunold nennt die getrennte Lagerung ein „Prinzip“: „Die sogenannte Bewegliche Raketentechnische Basis in der Heide hatte den Auftrag, die Raketeneinheiten der 8. Gardearmee mit Raketen und nuklearen Sprengköpfen zu versorgen.“

Forscher: Sprengköpfe waren bis 1989 in Halle

Bis 1989, schätzt der Historiker, habe die „Sondermunition“ in den beiden Kellern unter dem kleinen Hügel gelegen. „Austausch und Modernisierung erfolgten mit der Eisenbahn über Brest und Frankfurt bis zur Station Nietleben.“

Das Ministerium für Staatssicherheit war mit der Sicherung der Atomtransporte beauftragt, bekam aber nach Gunolds Überzeugung erst in den 80er Jahren mit, was da transportiert wurde.

Bunkerexperte: DDR wusste über Atomwaffen in Halle Bescheid

Bunkerexperte Bergner widerspricht. Geheimniskrämerei sei das eine, Geheimhaltung etwas anderes. Noch 1987 habe die DDR eine Regierungsvereinbarung mit der Sowjetunion verlängert, die für den Ernstfall die Lieferung von nuklearen Sprengköpfen an die Raketentruppen der NVA vorsah.

Um die Geheimhaltung zu wahren, nennt der Staatsvertrag die entsprechenden Kampfmittel durchweg nicht, obwohl allen klar war, worum es ging. Bergner: „Stattdessen finden sich Leerzeichen aneinandergereiht.“

Ehemaliges Atombombenlager in Halle steht heute leer

Leer ist heute auch die kahle Halle hinter dem getarnten Eingang zum Atombombenlager. Es ist kühl, es ist feucht, es ist dunkel. Vor ein paar Jahren wurde eine Mauer mitten durch den 300 Quadratmeter großen Raum gezogen, in dem einst vermutlich genug nuklearer Sprengstoff lagerte, um 400 Hiroshimas auszulöschen.

Die Träger rosten, die Decke blüht. An der Wand des Raumes, der als Fledermaus-Quartier dient, hängt ein Plakat, das die Skyline von New York zeigt. (mz)

Führungen durch DDR-Bunker: www.ddr-bunker.de

Eine Luna-Rakete, wie sie auch in Halle stationiert war.
Eine Luna-Rakete, wie sie auch in Halle stationiert war.
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