Behindertensport Behindertensport: Ein Rätsel bis zum Schluss
Halle (Saale)/MZ. - Am Ende war es wie eigentlich immer. Kidisti Weldemichael gab jede Menge Rätsel auf, die niemand aus ihrem Umfeld zu lösen vermochte. Bei den internationalen deutschen Leichtathletik-Meisterschaften der Behinderten holte die 20 Jahre alte blinde Läuferin am Wochenende in Singen zwar einen weiteren Titel, blieb über 1 500 Meter aber fast 20 Sekunden unter der Zeit, die sie schon im Training geschafft hatte. "Sicher, das Wetter war fürchterlich. Da sind keine Bestzeiten möglich, aber ich hatte den Eindruck, dass sie im Kopf nicht bereit war für dieses Rennen", sagte ihre Trainerin Henny Gastel. Sie war selbst unsicher und reichlich ratlos, weil sie nicht wusste, was in den letzten Tagen eigentlich passiert war.
Ein Teil des Rätsels löste sich noch in Singen. Kidisti erklärte nach längerer Denkpause, dass sie im Herbst eine Berufsausbildung in Würzburg beginnen und künftig nicht mehr für Halle, sondern für Mainz starten werde - und sorgte damit für weiteren Verdruss. "Ihre Entscheidung kann ich nicht nachvollziehen", sagte Andrea Holz, die Geschäftsführerin des Behinderten- und Rehabilitationssportverbandes Sachsen-Anhalt (BSSA). Es waren vornehm gewählte Worte. Denn nach einem halben Jahr hartnäckiger Suche hatte sich in Halle gerade die berufliche Perspektive für Kidisti geklärt. Unterschriftsreif bis ins letzte Detail. "Ich kann sie nicht verstehen. Kidisti bleibt mir ein Rätsel", sagt Holz.
Es hat sich also nicht viel geändert im vergangenen Jahr. Als die MZ Kidisti Weldemichael im Juni 2010 zum ersten Mal vorstellte, geschah dies mit der Schlagzeile: "Die geheimnisvolle Läuferin". Daran änderte auch der respektable vierte Platz bei der Behinderten-Weltmeisterschaft im Januar in Neuseeland nichts.
Sechs Jahre lebte die in Eritrea geborene Kidisti mit ihrer Familie in Halle. Hier erblindete sie nach einer Netzhautablösung. Ihr Umfeld wurde in dieser Zeit nie schlau aus ihr, sie selbst hüllte sich weitgehend in Schweigen. Obwohl sie inzwischen fast perfekt und akzentfrei deutsch spricht. Wenn sie sprach, dann über Urlaubspläne, und auch das nur in vagen Andeutungen. "In Norwegen oder in der Schweiz. Mit Freunden." Das waren ihre Pläne, Stand letzte Woche.
Zum Schluss kamen Probleme mit ihrer Trainerin hinzu. "Sie hat wohl erwartet, dass ich sie nach jeder Trainingsrunde in den Arm nehme. Aber das geht nicht. Wir machen hier Leistungssport", sagt Henny Gastel. Und hat damit volle Unterstützung vom BSSA. "Kidisti hat hier alle Möglichkeiten für ihre sportliche Entwicklung. Zwei Begleitläufer, die jederzeit für sie da waren. Eine intakte Trainingsgruppe", sagt Andrea Holz. Und weiter: "Auch wenn das spekulativ ist: Ich glaube, sie wird schnell merken, was sie aufgegeben hat."
Im September hätte sie ein soziales Jahr im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte und parallel dazu einen Vorbereitungslehrgang für eine Berufsausbildung zur Physiotherapeutin in Halle beginnen können. Warum das alles nicht attraktiv war, bleibt ein Geheimnis und Spekulation. Wie so vieles im Leben der Kidisti Weldemichael.
"Wir haben alles getan, mehr war nicht möglich", sagt Andrea Holz. Und ist natürlich ein Stück weit traurig. Denn mit der geheimnisvollen Läuferin verliert der Verband auch eine Sportlerin, die bei den Paralympics im nächsten Jahr in London berechtigte Medaillenchancen hat.