Arbeitsplatz Pachttoilette am Marktschlösschen in Halle Arbeitsplatz Pachttoilette am Marktschlösschen in Halle: Elvira Seiler sorgt für saubere Sachen

Halle (Saale) - Wer zu ihr kommt, hat ein mehr oder weniger dringendes Bedürfnis: Er muss mal. Das passiert ja erfahrungsgemäß auch gern mal dann, wenn man in der Stadt unterwegs ist. Und wer am eigenen Leibe schon einmal erlebt hat, dass dann kein stilles Örtchen in der Nähe ist - tja, der weiß, wie wichtig ein solches ist. Elvira Seiler hat tagtäglich mit Leuten zu tun, die müssen: Die 64-Jährige betreibt seit acht Jahren die etwas versteckt liegende Pachttoilette am Marktschlösschen und ist damit oft die „Rettung in letzter Minute“ - gerade jetzt, wenn Glühwein oder Bier einmal mehr als sonst auf die Blase drücken.
Doch Elvira Seiler ist viel mehr - sie ist die gute Seele des Hauses. Für viele Menschen - bekannte und unbekannte. Vor zwölf Jahren ist die Russlanddeutsche als Spätaussiedlerin mit ihrem russischen Mann und den beiden Töchtern nach Deutschland gekommen, nach Hohenthurm. Die studierte Lehrerin fand im Saalekreis nicht nur eine neue Heimat, sondern auch viele Freunde. „Wir fühlen uns sehr wohl hier“, so die Pädagogin, zu deren Familie auch drei Enkel und - seit vier Wochen - eine Urenkelin gehören.
Auch ihre jüngste Schwester wolle aus Russland nachkommen, scheitere allerdings momentan am Deutschtest - nur eine Einbürgerungshürde, die Elvira Seiler versucht, überwinden zu helfen. So forscht sie im Bundesarchiv nach Familienakten, wälzt Gesetzestexte und gibt Hoffnung. „Ich bin quasi der Anwalt meiner Familie“, lacht Elvira Seiler. Viele kämen mit rechtlichen Fragen zu ihr - egal, ob Familie oder Fremde.
Obligatorischer Deutsch-Test
In Hohenthurms Kulturleben sind die Seilers, die zunächst in einem Aufnahmelager wohnten und später eine eigene Wohnung beziehen konnten, nicht wegzudenken. Elvira Seiler singt seit langem im Chor, der gerade in der Weihnachtszeit viele Auftritte hat - im Saalekreis ebenso wie im halleschen Bergmannstrost.
In ihrer Heimatstadt Solikamsk - übrigens wie Halle eine Stadt des Salzes - in der russischen Region Perm im Ural hatte Elvira Seiler neben russischer Sprache und Literatur dank ihrer guten Deutschkenntnisse zusätzlich Deutsch im Nebenfach unterrichtet. Den obligatorischen Deutsch-Test haben die Seilers - neben Elvira noch die mittlere Schwester - natürlich bestanden. Doch ihr Diplom wurde der Pädagogin, die zuletzt stellvertretende Direktorin einer Berufsschule in Solikamsk war, in Deutschland nicht anerkannt.
„Ich hätte für eine Bestätigung nochmal zwei Jahre einen Kurs in Berlin machen müssen“, so Elvira Seiler. Das habe sie mit über 50 damals nicht gewollt, sondern sich lieber Arbeit gesucht. In Neustadt arbeitete sie im Hotel als Zimmermädchen, bis sie über eine Zeitungsannonce von der Verpachtung der Toilette am Marktschlösschen erfahren hatte. Seitdem nun sorgt Elvira Seiler für ein sauberes stilles Örtchen mitten in Halles City. Und hört manchmal unglaubliche Lebensgeschichten.
Sie mache einfach ihre Arbeit, sagt die Kleinunternehmerin, die nur einen freien Tag im Jahr hat: am 25. Dezember. In ihrem Job sei natürlich Sauberkeit das Wichtigste. Aber ebenso Zuhören. „Und: Ich rede mit den Leuten.“ (mz)