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Amoklauf kippt Stundenpläne Amoklauf kippt Stundenpläne: In Schulen ist Reden Gold

Von Jan Wätzold und Ralf Böhme 29.04.2002, 18:15

Halle/Saalkreis/MZ. - Nicht erst jetzt, da in einer Schweigeminute landesweit der Opfer des Amoklaufs von Erfurt gedacht wird, drehen sich die Gedanken der Mädchen und Jungen fast ausschließlich um die Schüsse vom Freitag. Seit am Morgen die Schulglocken zur ersten Stunde riefen, ist an allen Gymnasien der Stadt der Stundenplan weitgehend außer Kraft. Bis auf die Abiturienten, die über den schriftlichen Mathematik-Prüfungen schwitzen, sind alle Schüler angehalten, nichts zu tun als zu reden. Über ihre Trauer, über ihre Angst, über ihre Versuche, das Geschehene zu verstehen.

Wer nun glaubte, gerade die Suche nach Erklärungen stelle für die Altersgenossen des Todesschützen das größte Problem dar, konnte sich in der 10 c des Torgymnasiums eines Besseren belehren lassen. Fassungslosigkeit herrschte hier allein über die brutale Art und Weise, in der sich offenbar die Wut des Täters entlud. "Frust allerdings schieben heutzutage viele Schüler", meinte Charlotte Schmidt. Für sie liege der Grund für Konflikte in der scheinbaren Ignoranz einiger Lehrer, die sich nur um den Lehrplan kümmerten und kaum auf ihre Schüler eingingen. "Gespräche über Probleme finden doch heute nur noch in den Pausen statt", kritisierte auch Sina Traeder. Und sprach damit ihrem Direktor aus dem Herzen. Rainer Berthelmann hatte gegenüber der MZ bereits zuvor die Wiedereinführung so genannter Klassenlehrer-Stunden angeregt. "Einmal in der Woche sollten alle Schüler einer Klasse mit ihrem Klassenleiter zusammenkommen können, um ausschließlich über Probleme zu sprechen", so der Direktor des Torgymnasiums. Das Kultusministerium müsse hier rasch aktiv werden.

Auch vor dem Gymnasium in Landsberg hing am Montag die Staatsflagge auf Halbmast. Schulleiter Franz Heise wandte sich zu Unterrichtsbeginn über den Schulfunk an Schüler und Lehrer. Ausdrücklich bat der Lehrer, der seit 36 Jahren im Schuldienst ist, bei Konflikten das Gespräch zu suchen. Gewalt sei kein Lösungsmittel. In einigen Klassen, so in der 9 a von Sybille Lorenz, sprachen die Schüler ausführlich mit ihren Lehrern. Klassensprecher Lutz Wolff erwartete, dass nun ein Ruck durch die Gesellschaft gehen werde. In anderen Klassen wollten die Jugendlichen zunächst Abstand zu den Geschehnissen in Erfurt gewinnen.

Große Betroffenheit auch am Burggymnasium in Wettin. Schulleiter Reiner Niephagen machte deutlich, dass Lehrer und Schüler sich auch ohne öffentliche Aufforderung mit den Ereignissen auseinandersetzen würden. "Eine Schweigeminute ist eine Selbstverständlichkeit, um der Opfer der Bluttat zu gedenken." Andererseits dürfe man sich keine Illusionen machen. Die Probleme, die das Erfurter Verbrechen schlaglichtartig erhelle, seien vielgestaltig und nicht allein von der Schule zu lösen.

Die große Angst, dass der Amoklauf vom vergangenen Freitag schon in ein paar Wochen vergessen ist, hat Christoph Hoffmann. Der Direktor des Südstadt-Gymnasiums und Sprecher der Vereinigung der Schulleiter an Gymnasien in Sachsen-Anhalt warnte am Montag davor, die Chance einer breiten gesellschaftlichen Diskussion verstreichen zu lassen. "Es muss einmal ganz deutlich darüber gesprochen werden, dass die Lehrer allein die Schüler nicht zu konfliktfähigen Persönlichkeiten erziehen können", so Hoffmann. Einer seiner Schüler, Tim Pfänder aus der Klasse 11 d, sah das Problem am Montag sogar grundsätzlich an anderer Stelle: "Nicht in den Schulen muss etwas verändert werden, sondern in den Familien."

Neben den Diskussionen in den Gymnasien fanden noch weitere Gedenkveranstaltungen in Halle statt. So versammelten sich um 14 Uhr im Freylinghausen-Saal der Franckeschen Stiftungen Mitarbeiter, Studenten und Schüler zu einer Andacht. In der Marktkirche kamen um 17 Uhr etwa 80 Besucher zusammen, um für die Opfer des Amoklaufs und deren Angehörige zu beten. Noch bis zum 3. Mai können sich Gäste der Marktkirche in ein Trostbuch eintragen.