James Bond des Ostens James Bond des Ostens: Top-Spion, Playboy und Held

Zschornewitz - Playboy, Quartalssäufer und Motorradfreak: Dr. Richard Sorge war alles andere als diskret. Er war trotzdem einer der genialsten Spione, die es je gab. Ein unverschämter, charmanter Lebemann, wie ihn sich kein James-Bond-Drehbuchautor jemals zu erträumen wagen würde.
Ein Mann, der jede Frau ins Bett bekam und jedem Mann selbst die brisantesten Geheimnisse zu entlocken vermochte. So warnte er von Tokio aus mehrfach Josef Stalin vor dem Überfall der Deutschen im Juni 1941. Der Diktator schlug die Warnungen des Playboys in den Wind - mit fatalen Folgen.
Jahrelang verschwiegen die DDR-Propagandisten den Namen von Richard Sorge. Das änderte sich erst, als Moskau den „klugen und kühnen Kundschafter“ posthum als „Helden der Sowjetunion“ ehrte. 1970 veröffentlichte der Militärverlag den Dokumentarbericht „Dr. Sorge funkt aus Tokyo“. 1976 erschien in der DDR das Konterfei des Meisterspions als Briefmarke.
Peter Pätz, der Chef des Gräfenhainichener Archivs, hat von der Namensverleihung Dr. Richard Sorge für die Zschornewitzer Betriebsberufsschule noch ein Foto. Es ist Bestandteil einer Dokumentation zur Zentralwerkstatt. Das größte Unternehmen der Stadt, das Tagebaugroßgeräte reparierte, ließ in Zschornewitz ausbilden. Es war nach DDR-Maßstäben eine moderne Bildungsstätte. Für den theoretischen Unterricht standen sieben moderne Unterrichtsräume zur Verfügung. Jedes Kabinett war speziell für einen Beruf eingerichtet. Gelehrt wurden auch Technische Grundlagenfächrer. Der berufspraktische Unterricht erfolgte in den ersten Monaten in der Lehrwerkstatt. In den Lehrgängen der Grundlagenbildung wurden Grundfertigkeiten vermittelt. Die Betriebsberufsschule verfügte über eine eigene Turnhalle und ein Wohnheim.
In Zschornewitz erhielt die Betriebsberufsschule - das ist die Lehrwerkstatt der Gräfenhainichener Zentralwerkstatt - im Oktober 1979 den Namen des Kundschafters.
„Damit werden die guten Leistungen der Lehrlinge, Pädagogen und Mitarbeiter bei der kommunistischen Erziehung und Bildung der Jugend gewürdigt“, heißt es dazu im klassischem Parteideutsch. Ein großer Gedenkstein, der heute nicht mehr existiert, wird feierlich enthüllt.
Nicht erwähnt wird beim Festakt, dass die Spur des Spions - der Familien-Stammbaum - in die Region führt. „Und wer weiß wohl, dass von 1834 an fast 40 Jahre lang George Wilhelm Sorge in Zschornewitz wohnend, für die Seelsorge als Pastor in Großmöhlau zuständig war?“, schreibt der Hobby-Heimatgeschichtenforscher Karl Brellinger.
„Vielleicht kaum wichtig, aber immerhin ist zu vermerken, dass einer seiner Söhne, Friedrich Adolf Sorge, 1864 in London Mitbegründer der „Internationalen Arbeiterassoziation“ und viele Jahre in den USA in führenden Positionen politisch tätig war“, so der Ex-Möhlauer.
Friedrich Adolf Sorge wohnte übrigens in Bethau bei Jessen. „Und ein Urenkel des Möhlauer Pastors schrieb Geschichte als sowjetischer Top-Agent. Seine Informationen beeinflussten die Schlacht um Moskau 1941 maßgeblich: Dr. Richard Sorge alias „Ramsay“, so Brellinger.
Und es ist wohl irgendwie die Ironie des Schicksals: In den 40er Jahren hält sich ein weiterer prominenter Mann aus der Region in Tokio auf. Der Schriftsteller, Weltenbummler und Diplomat Erwin Wickert aus Reuden bei Kemberg. Sein Sohn Ulrich - wird bekannt als Nachrichtensprecher der ARD - wird 1942 sogar in Japan geboren.
Beide Männer - also Sorge und Wickert - aus Sachsen-Anhalt kannten sich. „Er arbeitete in der Botschaft ein Zimmer über mir, und wir sprachen uns fast jeden Tag“, so Wickert. Das Duo war zusammen, als Sorge klar wurde, das Stalin seine Warnung in den Wind geschlagen hat.
„Am Tag, als Hitler die Sowjetunion überfiel, traf ich ihn in der Bar des Imperial Hotels. Da hatte er schon viel getrunken und bezeichnete Hitlers Angriff auf die Sowjetunion als ein Verbrechen. Meine Versuche, ihn zu mäßigen, waren vergeblich. Er war aber einverstanden, als ich ihm ein Zimmer im Hotel bestellte und ihn raufbrachte“, erinnert sich Wickert in einem Welt-Interview.
Und nicht vergessen hat er natürlich auch die Enttarnung Sorges als Spion. „Ich fühlte mich getäuscht und misstraue seitdem meiner Fähigkeit, Menschen zu kennen und zu erkennen. Ich warf ihm vor, dass er bei so vernünftigen Ansichten über die deutsche Politik und die Kriegslage seine Augen vor den Trugbildern des Marxismus-Leninismus verschloss“, so Wickert.
Stalin lehnt den von Japan mehrfach angebotenen Gefangenaustausch ab. Es ist für den 49-jährigen Sorge das Todesurteil. „Ich danke ihnen für all ihre Freundlichkeiten.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der höfliche Häftling am 7. November 1944 vor seinen japanischen Henkern.
Kurz darauf, um 10.20 Uhr, öffnete sich der Boden des Galgens in Tokios „Sugamo“-Gefängnis. 16 Minuten später nahm man den Mann aus Zelle 20 vom Strick: Der Top-Agent, Deckname „Ramsay“, war tot. Seine Henker verscharrten den Leichnam auf dem Armenfriedhof, in dem für gewöhnliche Häftlinge vorgesehen Abschnitt.
Doch seine Geliebte Ishii Hanko, einstiges Animiermädchen der Tokioter Bar „Rheingold“, spürte die sterblichen Überreste des Agenten auf und sorgte dafür, dass Sorge auf dem Tama-Friedhof in einem Vorort Tokios ein ordentliches Begräbnis erhielt.
Aus der goldenen Zahnbrücke des Toten ließ sie sich einen Ring machen, den sie zeitlebens nicht mehr ablegte. Seit 1964 ziert ein Stein aus schwarzem Marmor das Grab des Meisterspions: Held der Sowjetunion prangert dort in kyrillischen Lettern, mit 20-jähriger Verspätung, als der Kreml Kritik an Diktator Stalin zuließ. (mz)
