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25 Jahre Ferropolis  25 Jahre Ferropolis : Wo Gespenster baggerten, führt Bertram Weisshaar

Von Sonja Poppe 28.07.2020, 11:30
Studenten aus Kassel nehmen die Informationen gern für ihr Projekt mit.
Studenten aus Kassel nehmen die Informationen gern für ihr Projekt mit. Thomas Klitzsch

Gräfenhainichen - Knapp 60 Menschen haben sich an diesem sommerlichen Freitagabend am Stadtbalkon in Gräfenhainichen zusammengefunden. Gemeinsam mit Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar aus Leipzig wollen sie am Gremminer See entlang durch den stillgelegten Tagebau Golpa-Nord bis nach Jüdenberg gehen und ins Gespräch kommen über diese einst verwundete Landschaft im stetigen Wandel.

Die Landschaft erlebbar machen und Aufmerksamkeit wecken für mögliche neue Gefahren, die von der geplanten Mülldeponie ausgehen könnten, möchte auch Nils Jansen-Rosseck, einer der Initiatoren des Spaziergangs vom Naturschutzverein „Natur auf der Kippe.“

Nach einer kurzen Einführung und der Erinnerung an die Spaziergänge durch den Tagebau, die Bertram Weisshaar schon vor 25 Jahren führte - dort, wo jetzt das Wasser des Sees die alten Wunden der Erde und die Erinnerung an das Dorf Gremmin bedeckt - macht sich die Gruppe auf den Weg. Damals sei es darum gegangen, „wie aus dem Loch in der Landschaft wieder Landschaft werden kann“, erzählt Bertram Weisshaar.

Jemand mit ungeschultem Auge denke heute vielleicht „Ach, was für ein schöner See!“, komme aber „gar nicht auf die Idee, was alles dahintersteckt“. Ein altes Dia vom „Loch in der Landschaft“ führt jedem, der an der Stelle der Aufnahme von 1993 auf den See schaut, eine vielschichtigere Sicht vor Augen.

Gemischte Truppe

Viele Mitglieder der Bürgerinitiative gegen die geplante Mülldeponie laufen mit, aber auch andere Anwohner, Besucher aus Dessau, Mitarbeiterinnen von Ferropolis und eine Gruppe von Studenten aus Kassel, die in Ferropolis ein Planungscamp besuchen, um Konzepte für eine besondere Universität in Ferropolis und an umliegenden Standorten zu entwickeln.

Die Erinnerungen der einen vermischen sich mit den ökologischen und ökonomischen Zukunftssorgen und -visionen der anderen. Was an dieser Landschaft soll erhalten und inwiefern darf und muss sie genutzt werden? Sind die vertrocknenden Birken hier die Folge zweier zufällig aufeinanderfolgender Dürrejahre oder weisen sie auf ein Problem hin, vor dem noch immer lieber die Augen verschlossen werden? All das kommt zur Sprache, während die Gruppe in der Abendsonne am Westufer des Sees entlanggeht.

„Wenn wir die Hintergründe kennen, können wir nicht mehr unbedarft in die Landschaft sehen“, die der Mensch mitgestaltet und gefährdet, betont Bertram Weisshaar und führt als Beispiel den Hamburger Dioxinskandal an. „Es braucht eine Gesellschaft die wach bleibt und wissen will, was passiert“.

So einen „Monte Mortale“ wie in Hamburg wolle man hier natürlich nicht haben, fährt Nils Jansen-Rosseck fort und berichtet von Industrieschlacken und Asbestschotter, die möglicherweise bald hier lagern. Das gefährde nicht nur die Natur mit den artenreichen Magerwiesen, die inzwischen entstanden sind, sondern auch Veranstaltungen wie das Splash!-Festival, das Ferropolis unter anderem Einnahmen zum Erhalt der Geräte im Freilichtmuseum liefere.

Die sind auch Designingenieur Rainer Hänsch aus Dessau wichtig, der sich für alte Industriearchitektur begeistert. „Gerade wenn die Bagger die Umgebung selbst gestaltet haben, wo sie stehen, dann bleibt auch noch etwas von der Geschichte sichtbar“, betont er.

Der Geologe Dieter Feldhaus, der die Bürgerinitiative mit ins Leben rief und sich unter anderem um die Sauberkeit des Wassers sorgt, ist froh, dass die Initiative den Entscheidungsprozess zur Mülldeponie erst einmal zum Stillstand bringen konnte.

Der Geschäftsführer von Ferropolis, Thies Schröder, hat zwar grundsätzlich nichts dagegen, dass Abfälle vor Ort verwertet werden, statt sie etwa nach China zu verschiffen. Das „Konzept der reinen Deponierung“ allerdings hält auch er für „veraltet“, denn „heute redet man eigentlich über Stoffkreisläufe oder Urban Mining.“ Außerdem müssten Sicherheitsrisiken wie die Gefährdung des Grundwassers „vollumfänglich ausgeräumt sein“, betont er.

„Wenn das nicht geht, dann ist das nicht der richtige Ort.“ Für seine differenzierte Sicht erhält er Applaus von den Teilnehmern, die sich nun aufmachen zur letzten Etappe gen Jüdenberg.

Spannende Erinnerungen

„Wir wohnen hier und fahren zweimal die Woche um den See“, erzählt Anwohnerin Gisela Kersten, auf die Frage, warum sie diese Landschaft liebe. Außerdem gebe es hier „wunderschöne Veranstaltungen“. „Wir sind froh, dass sie uns nicht weggebaggert haben. 200 Meter weiter, dann wären wir weg gewesen“, ergänzt ihr Mann. Und dann entspinnen sich Gespräche über die Zeit, als die quietschenden Bagger den Kindern am Rand des Tagebaus wie Gespenster vorkamen und die Druckwellen von Sprengungen Dachziegel herunterfallen ließen. Bevor sich die Gruppe langsam auflöst, ruft eine Teilnehmerin Weisshaar noch zu: „Es war sehr, sehr schön.“ (mz)

Mancher Teilnehmer war schon vor rund zwei Jahrzehnten mit Bertram Weisshaar (rechts) unterwegs.
Mancher Teilnehmer war schon vor rund zwei Jahrzehnten mit Bertram Weisshaar (rechts) unterwegs.
Thomas Klitzsch
Interessierte Bürgerinitiative
Interessierte Bürgerinitiative
Klitzsch
Das Büchlein von damals
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