Zufallsfund in Argentinien Zufallsfund in Argentinien: Paar aus Dessau-Mosigkau findet Mundart-Ausgabe von Hermann Wäschke

Mosigkau - Selbst Google Maps musste passen: „Die Route von Mosigkau nach San Antonio de Areco, Provinz Buenos Aires, Argentinien, konnte nicht berechnet werden“, meldet der PC und gibt nur einen imposanten Blick auf die halbe Weltkarte frei, der anzeigt, wie weit der Ort in der südamerikanischen Pampa von den hiesigen Breiten entfernt ist.
Und doch: Man kann 14 Stunden mit dem Flugzeug bis nach Buenos Aires fliegen und von dort noch einmal zwei Stunden mit dem Auto fahren und damit so weit weg sein von zu Hause, wie man es nur selten ist - man wird die Heimat nicht los.
So ging es jedenfalls Heidi und Dieter Molle aus Mosigkau, die sich Anfang November auf den Weg gemacht hatten, um ihre Tochter zu besuchen, die mit ihren zwei Kindern den Ehemann unter den Äquator begleitet hat, weil dieser ein Jahr in Argentinien arbeiten wird. „Wir sind dorthin geflogen, weil die Enkeltochter den zehnten Geburtstag feierte“, sagt Heidi Molle.
Ausgabe der Anhältschen Dorfjeschichten von Hermann Wäschke – mitten in Argentinien
Enthalten in dem Besuch in Übersee war ein Ausflug auf eine 160 Kilometer von der Hauptstadt entfernte Estancia, mit Asado, der argentinischen Kunst des Grillens, mit Tanz, Musik und Vorführungen. Und dort hatten Molles eine völlig unerwartete Begegnung. Ein literarisches Treffen, wenn man so will.
Denn nachdem die Kinder in den Pool verschwunden waren, wollten die Männer eine Runde Billard spielen - und auf dem Billardtisch lagen ein paar Bücher, die man erst beiseite legen wollte, dann aber viel länger in der Hand behielt als erwartet.
„Unsere Schwiegersohn fand die Bücher auf dem Billardtisch, kam zu mir und sagte: Guck mal, die sind ja von Köthen.“ Tatsächlich fanden Molles aus Mosigkau in der Estancia El Ombú de Areco eine fast vollständige Ausgabe der Anhältschen Dorfjeschichten von Hermann Wäschke, gedruckt vermutlich in den 1910er Jahren bei Paul Schettlers Erben in Cöthen-Anhalt.
Die Bücher gehörten einst Oswald Boelcke
Sechs Bände von acht waren vorhanden, darunter die Wäschke-Klassiker „Paschlewwer Jeschichten“ und „Töffchen un sein Notizbuch“. Nur das sechste und das achte Bändchen fehlten.
„Das waren übrigens nicht die einzigen Bücher in deutscher Sprache in der Estancia“, sagt Dieter Molle. Vielmehr fand sich eine ganze Bibliothek mit deutschen Klassikern, Goethe- und Schiller-Werken wie auch einige Bücher zur deutschen Geschichte.
Freuten sich Molles schon über diesen unerwarteten Wäschke-Gruß aus der Heimat, so wurde die Sache noch spannender, als sie in dem Buch einen handschriftlichen Vermerk fanden, der vermuten ließ, dass diese Bücher einst einem Oswald Boelcke gehört hatten.
Oswald Boelcke war ein in Dessau geborener Jagdflieger im Ersten Weltkrieg
Mit einiger Wahrscheinlichkeit könnte das der in Dessau aufgewachsene berühmte Jagdflieger des Ersten Weltkrieges gewesen sein. Der wurde zwar in Giebichenstein bei Halle geboren, aber seine Familie war erst kurz zuvor aus Argentinien, wo der Vater eine deutsche evangelische Schule geleitet hatte, nach Deutschland gekommen.
Möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, ist ebenso, dass die Bücher dem Vater der jetzigen Besitzerin Eva Boelcke, einem Osvaldo Boelcke, gehört haben könnten. Großvater Enrique Boelcke hatte die Estancia, die von Touristikern als „ein Stück Toskana“ in Argentinien gewürdigt wird, 1934 erworben.
Und wahrscheinlich verbirgt sich hinter diesem Enrique Oswald Boelckes älterer Bruder Heinrich, der noch in Buenos Aires zur Welt gekommen war und als Einwanderer in das Land seiner Kindheit zurückging. Dass er dabei Bücher seines berühmten Bruders im Gepäck hatte, ist nicht ausgeschlossen.
Eine Spur der Heimat tausende Kilometer von Anhalt entfernt
Heidi und Dieter Molle hatten schon in San Antonio de Areco versucht, Licht in die Herkunft der Wäschke-Bücher zu bringen, „aber die Besitzerin Eva Boelcke war nicht da, und es ist uns bis zum Ende unserer Reise nicht gelungen, Kontakt aufzunehmen“.
So ist es bei der reinen Freude geblieben, Tausende Kilometer von Anhalt entfernt eine derart besondere Spur heimatlicher Geschichte zu finden. (mz)