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Zerbster Heimatkalender Zerbster Heimatkalender: Ein dunkles Kapitel der Heimatgeschichte

19.10.2001, 12:44

Zerbst/MZ/cb. - Einem dunklen Kapitel der Geschichte des Landkreises Anhalt-Zerbst widmet sich der in der kommenden Woche erscheinende "Zerbster Heimatkalender 2002". "Vergessene Schicksale" nennt die Studienrätin Annemarie Lüdicke, die einige Jahre in Russland unterrichtete, ihren Beitrag über 698 Einwohner des Landkreises, die zwischen 1945 und 1949 - zum großen Teil willkürlich - verhaftet und in sowjetischen Lagern gefangen gehalten wurden.

Nur wenig ist über diese Lager bisher an die Öffentlichkeit gedrungen. In der DDR durften die Betroffenen nicht über ihr Schicksal sprechen und die meisten Akten wurden auf Befehl der Sowjets vernichtet.

Festgenommen wurden in Anhalt-Zerbst Bauern, ehrenamtliche Bürgermeister, Lehrer, Betriebsleiter, Beamte, Handwerker, Kaufleute. Dem Leiter des Wörlitzer Parkes, Gustav-August Otting, gelang es, aus dem Lager Tost viele Namen von Gefangenen mit nach Wörlitz zu bringen und die Angehörigen über das Schicksal der oft spurlos verschwundenen zu informieren. In Tost kamen zwei Drittel der 4 000 Inhaftierten um, darunter der Landwirt Paul Miertsch aus Horstdorf, der Stellmacher Wilhelm Tschiersch aus Wörlitz und der Bäckermeister Franz Schurade aus Oranienbaum. Von denen, die entlassen wurden, schafften viele den Heimweg nicht. So steht zwar der gehbehinderte Schriftsetzer Richard Hebecker aus Wörlitz auf der Entlassungsliste des Lagers Tost in Polen, zu Hause kam er aber nie an.

Selbst Menschen, die schon von den Nazis eingekerkert worden waren, wurden von der sowjetischen Geheimpolizei erneut verhaftet. Im Gefängnis "Roter Ochse" in Halle begegnete der Domänenpächter Rudolf Schulze aus Kermen dem Herzog Joachim Ernst von Anhalt, der 1944 im KZ Dachau interniert war und 1947 im sowjetischen Lager Buchenwald starb. Schulze selbst starb schon Ende 1945 mit 62 Jahren im Gefängnis an Lungenentzündung.

Selbst 14-jährige Jungen wurden als "Werwölfe" festgenommen, wobei schon Dummejungenstreiche dafür ausreichten. 55 solcher Verhaftungen sind für den Landkreis nachgewiesen, darunter der 14-jährige Glaserlehrling Werner Kurths aus Oranienbaum, der zusammen mit seinem Vater ins Lager Torgau gebracht wurde. 1947 starben die 17-jährigen Lehrlinge Günther Klautsch und Werner Carl aus Oranienbaum im Lager Sachsenhausen. Dieses Lager überlebten Horst Quindt (17) und Manfred Heddrich (19) aus Coswig. Ihr Glück war es, dass sie für die Theatergruppe des ebenfalls inhaftierten Schauspielers Heinrich George arbeiten und Botengänge für den Kommandanten erledigen durften. George selbst kam 1946 in Sachsenhausen um. Horst Quindt half später, die Gebeine des berühmten Schauspielers zu finden. Nach entsetzlichen Monaten wurden Walter Dorn und Gerhard Riedel (beide 17) aus Coswig aus dem Lager Landsberg/Warthe entlassen.

In Oranienbaum wurde im November 1945 der Landwirt Franz Bergmann aus Gohrau beim Verhör im Keller der sowjetischen Geheimpolizei derart zusammengeschlagen, dass der Arzt der Familie mitteilte, ihr Vater werde das wohl nicht überleben. Eine offizielle Mitteilung erhielten die Angehörigen nicht, Franz Bergmann verschwand spurlos.

Viele der Internierten wussten nicht, warum sie verhaftet wurden, so auch der Lehrer Friedrich Schulze aus Meinsdorf, dessen achtjähriger Sohn zu einer Pflegefamilie kam. Der Betriebsschlosser Otto Meißner aus Meinsdorf soll im Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg umgekommen sein. Genaueres ist über sein Schicksal nicht bekannt. Der Druckereibesitzer Kurt Ehrlich aus Roßlau kam im Frühjahr 1946 im Lager Mühlberg um. Die Schicksale des Arztes Dr. Ernst-Friedrich Kluge und des Apothekers Dr. Hans Ecke aus Coswig sind bis heute ungeklärt. Das russische Rote Kreuz teilte den Angehörigen lediglich mit, dass beide Ende 1945 gestorben sind.

Zerbster Heimatkalender, 168 Seiten, zahlreiche, zum Teil farbige Abbildungen, 8,50 DM, ISBN 3-9807104-4-0.

Der Zerbster Heimatkalender im Internet: www.extrapost.de.vu