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Vor 30 Jahren Vor 30 Jahren: Düsenjäger bohrt sich in die Erde

Von Helmut Dawal 10.12.2003, 17:34

Reinsdorf/MZ. - Es ist Dienstag. Der Himmel ist wolkenverhangen, das Thermometer zeigt zur Mittagszeit minus 0,5 Grad an. Der Wind weht schwach aus südwestlicher Richtung, vermerken die Meteorologen an diesem Tag. Die Sicht beträgt rund vier Kilometer, ausreichend für einen Übungsflug. Fluglehrer Major Wladimir Jaskow und Flugschüler Leutnant Wladimir Steschenko, die in der Köthener Garnison der sowjetischen Luftstreitkräfte ihren Dienst versehen, bereiten die Mig 21 für die Flugstunde vor. Laut donnernd steigt der Düsenjäger in den blauen Himmel. Alles scheint normal abzulaufen. Doch für die beiden Offiziere wird es der letzte Flug sein.

Gegen 13 Uhr kommt Dieter Skusa nach Hause. Der damals 15-jährige ist gut gelaunt, der Schultag liegt hinter ihm. Mit großem Appetit macht er sich ans Mittagessen, das ihm seine Oma auf den Tisch stellt. Plötzlich gibt es einen lauten Knall, den sich niemand erklären kann. "Es hat nicht lange gedauert, da gingen die Sirenen. Da war mir klar, dass irgendwas passiert war", erinnert sich Skusa. Der Junge rennt los zum Feuerwehrgerätehaus. Es wird sein erster richtiger Einsatz, den er als junger Feuerwehrmann mitmacht. "Das war damals möglich. Heute muss man wenigstens 18 Jahre alt sein."

Weit ist der Weg nicht, den der B 1000 der Reinsdorfer Wehr fahren muss. Der Einsatz führt zum Reinsdorfer Betriebsgelände der ZBE Gröbzig. Die Gebäude erstrecken sich hinter dem Schloss Reinsdorf. Dort angekommen, stockt den Feuerwehrleuten zunächst der Atem. Ein Flugzeug hat sich fast senkrecht in die Erde gebohrt. Aus der Maschine steigt Qualm auf, doch sie brennt nicht. Dafür lodert es auf dem Dach der LPG-Werkstatt. Und noch eine andere schreckliche Entdeckung machen die Kameraden. Auf dem Hof liegen menschliche Körperteile, ein Arm und ein Rumpf. "Diesen Anblick habe ich heute noch vor Augen", sagt Dieter Skusa.

Sein Bruder Erhard ist noch viel näher an der Unglücksstelle, nämlich in der Werkstatt. "Ich habe gerade Inventurlisten geschrieben, als es plötzlich eine Druckwelle gab. Da sind Blechteile durch die Gegend geflogen, dicker Staub wirbelte auf. Doch es war niemandem etwas passiert", schildert er. Auch Erhard Skusa ist schockiert, als er die Tür öffnet und einen Steinwurf weit das Flugzeugwrack erblickt. Er sieht aber auch die Flammen auf der Werkstatt. Ihm wird klar, dass schnell gehandelt werden muss. Die Tankstelle der LPG ist nur ein paar Meter entfernt.

An der Absturzstelle herrscht Aufregung, Kommandos wechseln hin und her. Die Reinsdorfer Feuerwehrleute rollen Schläuche aus. Mit dem Wasser wird das dampfende Flugzeug gekühlt und die Umgebung der Tankstelle. Auf dem Werkstattdach rücken Schlosser den Flammen zu Leibe. Wie sich herausstellt, ist es Kerosin, das beim Aufprall durch die Luft gespritzt ist. "Wir haben das Zeug regelrecht vom Dach gekehrt, die Feuerwehrleute haben es dann abgelöscht", erzählt Erhard Skusa. Bald treffen weitere Feuerwehren ein, die aus Köthen legt auf dem Gelände einen Schaumteppich. Auch Krankenwagen und Ärzte sind bald zur Stelle. Sie können den beiden Menschen, die in der Maschine saßen, aber nicht mehr helfen. Den Fluglehrer hat es regelrecht zerfetzt, der Flugschüler wird verbrannt im Cockpit der Mig entdeckt.

Die Nachricht über das Unglück macht schnell die Runde, bald sind auch die ersten Offiziere vom Köthener Flugplatz zur Stelle. Später landet ein sowjetischer Hubschrauber, der hochrangige Militärs nach Reinsdorf bringt. "Und dann hat es vor russischen Soldaten nur so gewimmelt, die nun das Handeln übernahmen", erzählen die beiden Skusas. Die Soldaten sind bewaffnet und sperren das Gelände ab. "Zutritt hatten zu diesem Zeitpunkt nur noch die deutschen Feuerwehrleute in Uniform. Alle anderen Leute wurden fern gehalten, da war kein Durchkommen mehr", sagt Dieter Skusa. Als das Feuer in der Umgebung der Absturzstelle gelöscht ist, können die Kameraden ihre Schläuche zusammen rollen. Mittlerweile ist der Abend angebrochen. Jetzt haben nur noch die Sowjets das Sagen.

Gänzlich unverborgen bleiben die Aufräumungsarbeiten an der Unfallstelle nicht. "Die Bergungstrupps haben sogar die Erde gesiebt, um jedes Teil der Maschine zu finden", erinnern sich die Skusa-Brüder. Der Rumpf der Maschine sei bereits einen Tag später abtransportiert worden. Nur die Suche nach dem Flugschreiber habe noch etwas länger gedauert. "Der wurde aber auch gefunden."

Als der B 1000 der Reinsdorfer Wehr am Abend wieder im Gerätehaus steht, fällt bei den Kameraden allmählich die Anspannung. Sie stellen sich die Frage, was die Ursache für den Absturz gewesen sein könnte. Noch mehr aber überwiegt wohl die Erleichterung darüber, dass nicht noch mehr passiert ist. "Die Mig ist nur knapp 100 Meter hinter dem Reinsdorfer Schloss heruntergekommen. Das Schloss war damals bewohnt, auch der Kindergarten war dort untergebracht. Die Katastrophe hätte noch viel schlimmer kommen können", resümieren Erhard und Dieter Skusa.

Erst dem Flugzeugabsturz ist es zuzuschreiben, dass Feuerwehrleute und Genossenschaftsbauern aus Reinsdorf in den folgenden Jahren engere freundschaftliche Kontakte mit sowjetischen Fliegern pflegen. "Wir waren oft zum Tag der Befreiung am 8. Mai in der Garnison", berichtet Erhard Skusa. Bei diesen Treffen sei der verunglückten Piloten gedacht worden, man kam sich auch menschlich etwas näher.

Und bei den Gesprächen fanden die Bauern dann auch eine Erklärung für ein Phänomen, das sie manchmal schon etwas beunruhigte. "Eigentlich waren wir ja an die Fliegerei über den Dörfern gewöhnt", erklärt Erhard Skusa. Doch wie er mussten auch andere Traktoristen bei ihrer täglichen Arbeit auf den Feldern mitunter feststellen, dass sowjetische Düsenjäger oder Hubschrauber plötzlich zum Sturzflug ansetzten und ziemlich tief über den Traktoren hinweg sausten. "Da ist so manchem der Schreck in die Glieder gefahren", blickt der Reinsdorfer zurück. Wie sich bei den Gesprächen in der Garnison herausstellte, dienten die Landwirtschaftsmaschinen den Piloten bei ihrem Training hin und wieder als Bodenziel. "Es wurden aber keine Bordwaffen auf uns gerichtet, sondern mit einer Kamera Fotos gemacht. So hat man uns die Tieffliegerei über den Feldern erklärt", erzählt Erhard Skusa.