"Ort der Demokratiegeschichte" "Ort der Demokratiegeschichte": In Dessau zog bundesweit erste Frau ins Parlament ein

Dessau - Dass er nicht mehr zu sehen ist und sich nur noch alte Dessauer oder Historiker seiner erinnern, hat der Ernennung nichts anhaben können: Der Platz des ehemaligen Landtages des Freistaates Anhalt ist als „Ort der Demokratiegeschichte“ aufgenommen worden in die Liste eines bundesweiten Projektes, das mit Förderung durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien die lange und wechselvolle Entwicklung der Demokratie in Deutschland nachzeichnet.
100 Standorte kamen auf die Liste. Sie wurden im Kontext zum 100. Jahrestag der im November 1918 ausgerufenen Weimarer Republik von der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ und dem in Weimar ansässigen Weimarer Republik e.V. ausgearbeitet und erforscht. Der Freistaat Anhalt wiederum folgte dem Herzogtum Anhalt des Deutschen Kaiserreichs 1918 bis 1945 als Land des Deutschen Reiches. Landeshauptstadt war Dessau, wie auch der Sitz des Landtages.
Erste Sitzung war am 20. Februar 1919
Dessen erste Sitzung als Parlament und Legislative des Freistaates war am 20. Februar 1919. Der Landtag des Freistaats Anhalt tagte im 1874 fertiggestellten Behördenhaus noch aus der Zeit des Herzogtums. Dabei handelte es sich um einen großzügigen Gebäudekomplex am heutigen Stadtpark. Das Behördenhaus fiel im Zweiten Weltkrieg 1945 der Bombardierung Dessaus zum Opfer, wurde völlig zerstört und danach nicht wieder aufgebaut. Heute steht an dieser Stelle in der Friedrichstraße /Ecke Willy-Lohmann-Straße ein Y-Haus.
Was nun aber machte den bis in sein Domizil dem feudalen Erbe eng verbundenen Landtag des neues Freistaates der Weimarer Republik zu einem „Ort der deutschen Demokratiegeschichte“?
Marie Kettmann wurde erste weibliche Landtagsabgeordnete
Der Grund ist Marie Kettmann, sagt Dr. Markus Lang vom Bundesprojekt. „Die Landtagswahlen im Freistaat Anhalt am 15. Dezember 1918 waren die ersten in Deutschland, in denen Frauen das aktive und passive Wahlrecht hatten“, würdigt der Projektleiter die damalige Bedeutung des Freistaats Anhalt. Unter den insgesamt 75 Kandidaten zur „konstituierenden Landesversammlung“ waren sechs Frauen, drei aus Dessau, zwei aus Zerbst und eine aus Roßlau.
Keine der sechs Kandidatinnen schaffte auf Anhieb den Sprung ins Parlament. Marie Kettmann aber wurde im darauffolgenden Jahr 1919 erste weibliche Landtagsabgeordnete und zog ein in das Behördenhaus.
Deutlich Stellung nahm Kettmann aber im Petitionsausschuss zur freien Hebammenwahl
Die Anwesenheit einer Frau neben 35 Herren würdigte der Landtagspräsident Heinrich Peus (SPD) in seiner Begrüßung im Plenum mit dem deutlichen Hinweis, dass auch weibliche Interessen Berücksichtigung verdienen. So wird in dem Buch „Die weiblichen ’Herren Abgeordneten’ von Elke Storz die Rolle der ersten Politikerinnen der Region Sachsen-Anhalts von 1918 bis 1945 beleuchtet. Im Fall Kettmann stellte sich heraus, dass sich die Ansprache von Peus nur zögerlich durchsetzte und die „Herren Abgeordneten“ größtenteils unter sich blieben.
Deutlich Stellung nahm Kettmann aber im Petitionsausschuss zur freien Hebammenwahl: Für Frauen, die sich für eine freie Geburtshelferin und nicht für die Bezirkshebamme entschieden hatten, wurden doppelte Gebühren fällig. Marie Kettmann blieben nur wenige Monate bis zum Ende der Legislatur. Aber auch im Parlament ihrer Heimatstadt Roßlau war Marie Kettmann als Frau eines Elbeschiffers die erste weibliche Abgeordnete und konnte hier bis 1927 wirken. (mz)