1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Dessau-Roßlau
  6. >
  7. Messerattacke: Messerattacke: Dessauer versucht nach Angriff Rückkehr in den Alltag

Messerattacke Messerattacke: Dessauer versucht nach Angriff Rückkehr in den Alltag

Von Thomas Steinberg 15.01.2013, 19:01

Dessau/MZ. - Die Silvesterraketen waren das Signal an das Gedächtnis, nun mit dem Countdown zu beginnen: 16, 15, 14… Am 16. Januar wird es genau ein Jahr her sein, dass er niedergestochen wurde.

André Schubert kurvt schwungvoll um die Tische, die Teller in den Händen, stellt sie ab vor den beiden neuen Gästen. "Hier, für euch Drei", sagt er salopp; die Frau ist schwanger. Für Smalltalk bleibt kein Raum. Zur Mittagszeit herrscht Druck in Schubi's Imbiss. "Es wird langsam besser", sagt er später, als sich der Laden geleert hat, den er vor einem halben Jahr eröffnet hat.

Ob er sich selbständig gemacht hätte ohne den 16. Januar, ohne das, was danach geschah? Die Frage lässt sich mit "Ja" beantworten, obwohl mit diesem Tag Schuberts Leben eine radikale Wende nahm. Es war der Tag, an dem er Zivilcourage zeigte. Und es war der Tag, an dem er tiefer verwundet wurde, als die Klinge des Messers reichte.

Täter wird schnell festgenommen

Was am 16. Januar 2012 geschah, können die Ermittler recht schnell rekonstruieren. Ein Mann streitet mit einem älteren Herren, weil er dessen Handy haben will. Schubert und ein Freund sehen sich das eine Weile an, bevor sie dazwischen gehen. Plötzlich ist ein Messer da. Die Klinge dringt tief in Schuberts Hals, er bricht am helllichten Tage vorm Dessauer Mc Donald's zusammen. Mit einer Notoperation kann das Leben von André Schubert gerettet werden. Der Täter wird vor Ort festgenommen.

Normalerweise hätte der Fall die Öffentlichkeit und die Medien nur ein paar Tage beschäftigt, dann wäre er für Unbeteiligte allmählich in Vergessenheit geraten. Doch dieses Mal war alles anders. Der Überfall wird zu einem mit Emotionen aufgeladenen Politikum. Denn der Täter, ein Asylbewerber aus dem Senegal, erfüllt das von ganz rechts kultivierte Klischee des kriminellen Ausländers. Und Schubert, das Opfer, spielt im Fußball bei Vorwärts Dessau, der mal groß war, inzwischen sportlich nahezu bedeutungslos und immer noch dafür bekannt ist, dass sich unter den Fans und Mitgliedern bekennende Neonazis und Rechtsextreme fanden.

Noch am Abend des 16. Januar 2012 gibt es eine spontane Demonstration. Man darf diese Reaktion ungewöhnlich nennen: In Dessau und anderen Orts geschehen Verbrechen, ohne dass es zu irgendwelchen Protesten kommt. Und auch dies ist nicht zu bestreiten: Mehrfach werden aus der Demonstration heraus ausländerfeindliche Parolen gerufen, die indes schnell verhallen.

Und unter den Demonstranten finden sich regional bekannte Neonazis. Von ganz links lautet das im Internet publizierte Urteil: Hier war der Volksmob auf der Straße. Differenzierung? Findet sich ebenso wenig wie bei den Propagandisten des Schemas vom "kriminellen Ausländer". Den Aktivisten der einen Seite dient der pauschale Rassismusvorwurf als Keule, denen der anderen Seite notdürftig bemäntelter Rassismus als Erklärungsmuster. Die Stimmung schaukelt sich hoch und wird gezielt geschürt, als Unbekannte einen Facebook-Aufruf zu einer weiteren Demo am 22. Januar starten.

Besonnene Stimmen, auch von André Schubert, der sich von der rechten Szene klar distanziert, scheinen bei der von Lautsprechern und Schreihälsen dominierten Facebook-Diskussion kaum durchzudringen.

Vermutlich aber sind es dieser Krawall und die im rechten Lager vermuteten Organisatoren, die dafür sorgen, dass Unterstützer sich vorab ausklinken: Mit Neonazis wollen sie denn doch nichts zu tun haben. Am Ende ziehen 400 Menschen durch die Straßen. Für Dessauer Verhältnisse sind das viele, auch, weil etliche sehr junge Leute dabei sind, die die sonntägliche Veranstaltung eher als Abenteuer begreifen. Aber auch hier lässt sich nicht leugnen: Angeführt wird der Zug von etwa 50 Hooligans und Neonazis. Vor dem Bahnhof redet Ronny B., vorbestraft, weil er mit anderen grundlos vermeintlich linke Jugendliche schwerstens zusammengeschlagen hat. Dass seine Identität bekannt und damit sein Gerede von der Sicherheit auf Deutschlands Straßen als Geschwätz kenntlich wird, dürfte zumindest den Mitläufern die Augen geöffnet haben.

André Schubert, das Opfer, ist über die Ereignisse weitgehend in Vergessenheit geraten. Doch ausgerechnet er zeigt im Prozess gegen den Täter Größe: Alle Beteiligten loben seine souveräne Aussage. Er selbst bringt es fertig, was andere weder vermögen noch wollen: Er äußert Verständnis, dass der schwer schizophrene Täter nicht verurteilt, sondern auf unbestimmte Zeit in die Psychiatrie gesteckt wird.

Heute sagt André Schubert von sich, dass ihn nichts mehr so schnell aus der Bahn werfen würde, dazu hat er zu viel durchgemacht. Aber er weiß auch: Genau daraus erwächst die Gefährdung für ihn selbst. "Ab zur Trauma-Therapie", habe ihm die Psychologin neulich geraten. Aber als Selbstständiger? Wann? Wenn er nicht einmal die Zeit findet für eine möglicherweise erneut notwendige Operation. Wer flüchtig hinschaut, übersieht die Anzeichen von anhaltender Lähmung in der linken Gesichtshälfte. Aber neulich, als er in froher Runde saß, verging André Schubert blitzartig jede Fröhlichkeit. Ihm fiel ein, dass er nur mit halbem Gesicht lachen könne.

Debatte um Zivilcourage

Vor wenigen Wochen stand André Schubert vor 70 000 Zuschauern auf dem Rasen der Münchner Bayern-Arena. Uli Hoeneß als Vorsitzender des Verwaltungsrates der Dominik-Brunner-Stiftung ehrte ihn und 19 weitere Personen für praktizierte Zivilcourage. In Dessau bekam davon kaum jemand etwas mit. Und so entstand auch keine Diskussion, die sich im Anschluss an den 16. Januar empfohlen hätte: Warum es in der Gesellschaft an Zivilcourage mangelt.