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Erlebnisgastronomie Erlebnisgastronomie: Freie Fahrt für den Kaffee-Express

Von Steffen Drenkelfuss 12.07.2002, 19:00

Roßlau/MZ. - Hört man den Namen Waldschlösschen, so bilden sich sofort Assoziationen vom idyllisch gelegenen Heim schöner Prinzessinnen und mutiger Recken. Sonnenbestrahlt auf einer Lichtung stehend, vermutet man ein romantisches Gemäuer mit Schlossgraben und Wasserspielen im Märchenteich. Dass die Realität manchmal wenigstens im Detail dann nicht ganz so daneben liegt, ist wohl eher selten.

Sucht man jenen traumhaften Ort Waldschlösschen in der diesseitigen Welt und beschränkt man sich dabei auf die nähere Umgebung von Coswig, wird man fündig. Und man wird überrascht. Verlässt man Coswig auf der Fernverkehrsstraße B107 in Richtung Köselitz, so erreicht man nach wenigen Kilometern Fahrt durch waldige Gegend tatsächlich ein Waldschlösschen. Auf einer Lichtung liegt es nicht, einen Schlossgraben hat es nicht und so ein richtiges Schloss ist es auch nicht. Aber immerhin es heißt so: Waldschlösschen, Liebchens Waldschlösschen.

Die Familie Liebchen, einst aus Thüringen an den Rand des Fläming gezogen, betreibt hier seit der Wende jenes Waldschlösschen als eine gastronomisch-touristische Einrichtung der etwas anderen Art. "Bevor wir in den späten achtziger Jahren anfingen, den einst traditionsreichen Gasthof "Waldschlösschen" wieder als Gaststätte und Urlaubsdomizil einzurichten, hatte er schon 30 Jahre ausgedient".

Gero-Armin Liebchen, großgewachsener Mittfünfziger mit grauem, zum Zopf gebundenen Haaren, bittet hinein, will die Geschichte des Gasthofes, die nun auch seine Geschichte ist, erzählen. Angenehme Kühle empfängt den Besucher und fördert die Bereitschaft, Eindrücke aufzunehmen.

Und sofort wird deutlich: die Differenz zwischen spielerischer Assoziation mit dem Namen des Gasthofes und der materialisierten Welt könnte nicht größer sein. Der große Thekenbereich wie auch das Gastzimmer sind mit mannigfaltigen Geleisen in mehreren Ebenen durchzogen.

Mal schlängelt sich der eiserne Schienenweg an der Wand lang und bricht sich stiernackig geradwegs durch angrenzendes Mauerwerk Bahn, mal tunnelt er Holztragwerk oder zieht mehrfach verschlungene Kreise unter der Decke des Gastraumes. Und auf diesen Stahlwegen schnaufen historische Dampflokmodelle mit Rungenwaggons und Plattformwagen, zischeln Kleindiesellokomotiven mit Pack- und ungedecktem Stückgutwagen herum. Sie transportieren die Sehnsüchte nach längst vergangenen Länderbahnzeiten und nähren das Fernweh der großen und kleinen Gäste.

Und wenn man beim faszinierten Betrachten Kaffee und Kuchen bestellt, dann transportieren die kleinen Modellzüge im Maßstab 1:22 sogar das Georderte - und zwar bis zum Tisch des Bestellers. "1995 hatte mein Mann die Idee mit der Modelleisenbahn", erzählt Roswitha Liebchen. Seither habe sich diese ungewöhnliche Gasthof-Ausstattung herumgesprochen. Die Gäste reisen teilweise teilweise extra aus dem Ruhrgebiet an, andere übernachten sogar der Eisenbahn willen mehrere Tage. "Mit einer Grundinvestition von 12 000 Mark sind wir gestartet. Pro Jahr wurden weitere 10 000 Mark in Gleise und rollendes Material investiert", beschreibt die ruhige, fast schüchtern wirkende Frau und freut sich, dass die Rechnung aufgegangen ist.

Jeder Pfennig Investition in die Eisenbahn mit der Spurweite von 45 Millimetern sei sinnvoller gewesen als das Schalten von Anzeigen und Starten von Werbekampagnen.

"Die Leute kommen einmal und sind begeistert, den Rest erledigt dann die Mundpropaganda", bescheidet aufgeräumt der Gasthof-Chef. Gero-Armin Liebchen, der neben seiner Funktion als Wirt auch noch als Fahrdienstleiter fungiert, demonstriert den Bedienvorgang. "Alles was an Getränken oder Speisen durch die Tunnel, also den Wanddurchbrüchen, passt, wird mit den Zügen an die Tische gefahren." Sagt's und dreht den Spannungsregler auf.

Gekürzte Fassung - Den Originaltext lesen Sie in der Lokalausgabe Roßlau vom Sonnabend, 13.07.2002.