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Drohbriefe, Erpressung Drohbriefe, Erpressung: Jüdische Gemeinde fühlt sich im Stich gelassen

Von Annette Gens 11.10.2019, 11:28
Die Polizei in der Kantorstraße
Die Polizei in der Kantorstraße Ruttke

Dessau - Einen Tag nach dem hinterhältigen Anschlag auf die Synagoge in Halle fordert die Dessauer Jüdische Gemeinde stärkere Sicherheitsvorkehrungen für ihr Gemeindezentrum in der Dessauer Kantorstraße.

„Fast jeden Tag werden wir als Juden mit versteckten und offenen verbalen und physischen Anfeindungen konfrontiert. In der Vergangenheit haben wir versucht, die Menschen gezielt auf das existierende und noch immer ungelöste Problem des Antisemitismus aufmerksam zu machen“, schildert Alexander Wassermann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Dessau. Doch die Öffentlichkeit und die Politik hätten dieser Tatsache nur eine geringe Beachtung geschenkt.

Dessaus Chef der Jüdischen Gemeinde spricht von Angst und Beklemmungen

Wassermann spricht von „Angst und Beklemmungen“, die die Mitglieder der Gemeinde nach dem Anschlagsversuch in Halle, bei dem am Mittwoch zwei Menschen starben, verspüren. Nach dem Entsetzen über die Tat reagierten am Donnerstag Juden mit Fernbleiben vom Gemeindehaus: „Sie wollen aus Angst vor Nachahmern oder möglichen Komplizen des Täters die Gemeinde nicht mehr besuchen.“

Anfeindungen und auch Einbrüche hat die Jüdische Gemeinde in den vergangenen Jahren einige erlebt. Die letzten Hassbriefe - insgesamt fünf mit allgemeinen Anfeindungen (zum Beispiel „Deutschland mach dich frei von der Judentyrannei“), mit Forderungen nach Lösegeldzahlungen, um eine Veröffentlichung aller Namen der Mitglieder der Gemeinde zu verhindern, und mit persönlichen Anfeindungen gegen Alexander Wassermann und der Ankündigung „Du bist der nächste“ - sind erst wenige Monate alt.

Die anonymen Briefe waren für die Gemeinde Anlass, die Sicherheitsvorkehrungen für die Kantorstraße verschärfen zu wollen. „Doch finanziell sind wir nicht dazu in der Lage“, erinnert Wassermann an das bevorstehende Bauprojekt der Gemeinde. Jeden Euro hat die Jüdische Gemeinde für den Bau einer neuen Synagoge gespart. Der Spatenstich dafür steht im nächsten Monat bevor. Bereits im ersten Halbjahr 2019 hatten Experten der Polizei eine Mängelliste des rund 120 Jahre alten Gemeindezentrums aufgestellt. 17000 Euro wären notwendig für die Anschaffung von Videokameras, für die Verstärkung von Türen und Fenstern mit Gittern oder Schutzfolien.

Absage von Stahlknecht sorgt in der Gemeinde für Verbitterung

Den Bittbrief an Sachsen-Anhalts Innenministerium, hier finanziell zu unterstützen, hatte Innenminister Holger Stahlknecht im Juni negativ beantwortet. „Auch wenn die Bekämpfung des Antisemitismus einen Schwerpunkt in Sachsen-Anhalt darstellt, obliegt die Sicherungspflicht eines Objektes dem jeweiligen Eigentürmer“, erwiderte Stahlknecht. Anfallende Kosten seien von der Gemeinde selbst zu tragen. Stahlknecht schickte nochmals Experten des Landeskriminalamtes vor Ort. Das inzwischen vorliegende Gutachten weist auf etliche Mängel hin.

Was den Neubau der Synagoge betrifft, so greifen der Gemeinde neben Bund und Stadt auch der Zentralrat der Juden und Lotto-Toto unter die Arme. Das Projekt steht finanziell auf sicheren Füßen. Es fehlen allerdings 100000 Euro für notwendige Sicherheitsmaßnahmen - für Kameratechnik und verstärkte Türen und Fenster. Dessau-Roßlaus Oberbürgermeister Peter Kuras hoffte noch im Juli, das Land werde hier helfen, weil andere Bundesländer es auch so handhaben würden. Wassermann muss enttäuschen. „Bis jetzt gibt es keine Lösung.“

Am Donnerstag, eine Nacht nach der Tat in Halle, hatte der erste Mann der Jüdischen Gemeinde zu Dessau den Mittwochvormittag in der Kantorstraße vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen. Der Feiertag Jom Kippur wurde 9.30 Uhr mit einem Gottesdienst begangen. „Wir beten im Erdgeschoss, die Fenster sind notdürftig mit einer Folie gegen Steinschlag gesichert. Die Eingangstür war zwar verschlossen, ist aber ziemlich alt.“ Mittlerweile gibt es auf unbestimmte Zeit Polizeischutz.

Am Donnerstagabend versammelten sich 50 Menschen vor dem Gemeindezentrum zum stillen Gedenken. (mz)