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Zwei Familien in Sollnitz untergebracht Dessauer fährt 1.000 Kilometer weit in den Osten, um Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zu retten

Von Silvia Bürkmann Aktualisiert: 07.03.2022, 13:21
Oliver Ketziora aus Sollnitz (2.v.l.) hat mit den zwei Flüchtlingsfamilien insgesamt acht  Personen in seinem Haus aufgenommen.
Oliver Ketziora aus Sollnitz (2.v.l.) hat mit den zwei Flüchtlingsfamilien insgesamt acht Personen in seinem Haus aufgenommen. (Foto: Thomas Ruttke)

Sollnitz/MZ - Nie hätte Oliver Kedziora gedacht, dass seine Russischkenntnisse auch außerhalb des Berufs so wichtig sein würden. „Kak tibja sawut?“- Wie heißt du? „Skol’ko tebje let?“- Wie alt bist du? Die Vorstellungsrunde im Haus des Sollnitzers Anfang der Woche dauerte dennoch lange. Denn bei dem 49-jährigen Dessauer leben derzeit zwei ukrainische Flüchtlingsfamilien - insgesamt acht Personen.

Die zwei Ehepaare mit je zwei Kindern haben die Runde der Hausbewohner erweitert. Und Kedzioras eigenen zwei Jungs Richard (acht Jahre) und Armin (sechs) neue Spielgefährten verschafft. „Ich weiß nicht, wie sie es machen - aber sie verstehen sich. Ohne Dolmetscher“, schüttelt der Hausherr lächelnd den Kopf.

Treff an polnischer Grenze nach abenteuerlicher Fahrt

Die Neuankömmlinge haben eine dramatische Flucht aus dem ukrainischen Kriegsgebiet hinter sich. Die Familien von Juri und Swetlana Welinski sowie Oleg und Anja Dworcak sind miteinander verschwägert - Oleg und Swetlana sind Geschwister. Beide Familien lebten vorige Woche noch in dem Dorf Khmelivka in der Westukraine, rund 300 Kilometer westlich der Hauptstadt Kiew und 170 Kilometer östlich von Lwiw (Lemberg). Bis Russlands Präsident Wladimir Putin einen Krieg gegen das Nachbarland entfesselte.

Das Gewühl und Gewusel im Haus ist noch groß. Die Kinder aber haben bereits Freundschaft geschlossen: Richard, Maxim, Madwi und Armin (v.l.n.r.)
Das Gewühl und Gewusel im Haus ist noch groß. Die Kinder aber haben bereits Freundschaft geschlossen: Richard, Maxim, Madwi und Armin (v.l.n.r.)
(Foto: Thomas Ruttke)

Die Verbindung zu Oliver Kedziora und Sollnitz entstand durch Juri, den befreundeten Arbeitskollegen. Der Ukrainer und der Dessauer sind bei einem polnischen Bauunternehmen angestellt, das regional und deutschlandweit tätig ist. Juri ist dort Monteur und Oliver Übersetzer für Polnisch und Russisch. „Kein Problem“, sagt Oliver Kedziora. Er kommt prima zurecht, ist gebürtiger Dessauer und dank seines polnisches Vaters Jan und Mutter Monika zweisprachig aufgewachsen.

„Pack schnell die Kinder und die Dokumente zusammen“

„Spätestens als Russland am 22. Februar die Regionen in der Ostukraine um Donezk und Luhansk für unabhängig erklärte, war mir klar, dass das Krieg gibt“, blickt Kedziora zurück auf zehn Tage, an denen sich die Ereignisse überschlugen. Dass die russischen Panzer rollen würden, damit hat er also gerechnet. Nicht aber, dass es so schnell gehen würde. Und so den Kollegen gedrängt: „Sag deiner Frau, dass sie die nötigsten Sachen und Dokumente für sich und die Kinder zusammenpackt. Wir treffen uns an der polnischen Grenze. Ich hole sie raus. Aber du bleibst in Deutschland. Sonst wirst du dort noch eingezogen“, machte Oliver seine Kumpel und Kollegen Juri klar.

Familie auf der Flucht
Familie auf der Flucht
(Grafik: Prepress Media/Schnuer)

Seit Anfang der Vorwoche standen dann die Telefone nicht mehr still. Swetlana zögerte. Sie fährt kein Auto, die Lage war unübersichtlich. Als aber die ersten Schüsse und Einschläge in der Nachbarschaft krachten, rief sie Oliver Kedziora an, den unbekannten Mann aus Deutschland. „Mein Bruder Oleg fährt uns am 26. Februar zur Grenze“, sagte sie ihm damals. Nun warf der Dessauer das Wichtigste ins Auto und macht sich auf den Weg, fast 1.000 Kilometer in Richtung Osten.

Kilometerlanges Warten an kleinem Grenzübergang

In den langen Stunden auf dem Asphalt erfuhr Kedziora, dass Bruder Oleg nicht nur die Schwester und Neffen zur Grenze fuhr. Auch die eigene Familie wollte er in Sicherheit bringen. In dem kleinen Skoda also drängen sich drei Erwachsene und vier Kinder und tuckerten von Kmelivka nach Zosin. Zu dem kleinen Grenzübergang nach Polen, dem zweitnördlichsten vor der Grenze nach Weißrussland. Dort stauten sich inzwischen die Autos von Flüchtlingen in einer 30-Kilometer-Warteschlange.

Inzwischen hatte Kedziora auf Social-Media-Kanälen andere über die Lage informiert und im Sekundentakt Hilfsangebote erhalten: Buskontakte, Mitfahrgelegenheiten, Unterbringungsmöglichkeiten. Kurz vor Ankunft in Zosin sagte er Swetlana, sie solle mit ihren Jungs zu Fuß zur Grenze kommen, Olegs Familie könne im Auto langsam weiter vorrücken. Weil Familie Dworcak mit Kyrill (neun Jahre) ein autistisches Kind hat, sei Oleg vom Kriegsdienst befreit und dürfe ausreisen. „Wir hatten Erkennungszeichen ausgemacht und dann sprach mich kurz hinter der Grenze schüchtern ein Junge an: ,Sind Sie Oliver?“ Sie hatten sich gefunden. Sie waren in Sicherheit.

Der Empfang in Polen war voll Herzlichkeit. „Die Menschen dort begrüßten die Flüchtlinge großartig. Überall gab es Essen, Trinken und Hilfe. Das hätte ich nicht gedacht und war gerührt“, so Kedziora.

Vorigen Montag war die erste Gruppe dann in Sollnitz. Olegs Familie folgte Mittwoch. Das Willkommen in der Stadt aber holperte. Bei der Bitte um Schlafdecken hörte Kedzioras Mutter beim Sozialamt und DRK nur Entschuldigungen und Absagen. Montag nun will Kedziora seine Schützlinge auf Behördengängen begleiten. Seite 9