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Freundschaft unterm Apfelbaum Aus Hilfe wird Freundschaft: Rentner-Ehepaar aus Dessau kümmert sich um syrische Familie

Von Iris Stein 17.09.2017, 10:00

Dessau - Blumen blühen, Hecken sind ordentlich geschnitten, ein Rasenmäher brummt. Eine Kleingartenanlage in Deutschland ist eine akkurate Sache. Auch hier in Dessau. Einer der Gärten allerdings sieht - nun ja - ein bisschen anders aus. Nicht ganz so exakt gepflegt wie bei den Nachbarn links, rechts und gegenüber.

Es gibt Erdbeerpflanzen, Gurken, ein paar Zwiebeln, viel Petersilie, jede Menge Unkraut und einen Apfelbaum, der reichlich Früchte trägt. Darunter haben sie sich jetzt versammelt: Hendrina und Masoud Rasho, ihre Kinder Farhan, Louren und Ahmad und Oma und Opa. So nennen alle Mitglieder der syrischen Familie, zu der auch noch Sohn Loran gehört, das ältere Ehepaar, das ihnen nun schon seit bald zwei Jahren mit Rat und Tat zur Seite steht: Ursula und Christoph Popp. Sie ist 80, ihm fehlen nur noch ein paar Monate am gleichen Lebensalter.

Unruheständler Popp sagt auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise Hilfe zu

Wie kommen zwei Ruheständler in diesem Alter zu einer syrischen Familie? Zumal sie vier eigene Kinder, vier Enkel und auch schon zwei Urenkel vorweisen können. „Ja“, sagt Christoph Popp, „Langeweile haben wir wirklich nicht.“ Hatten sie auch nicht, als sie Ende 2015, sozusagen zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise, einen Flyer ausfüllten, um ihre Hilfe anzubieten, bei all den Problemen, die sich daraus auch in Dessau-Roßlau ergaben.

Eine Selbstverständlichkeit für den ehemaligen Linken-Stadtrat Christoph Popp. Dass so schnell und gründlich nach ihnen verlangt wurde, hatten beide nicht gedacht, aber ein Rückzieher? „Kam nicht in Frage“, befindet der Unruheständler Popp bis heute, und so haben sie „Ja“ gesagt, als sie im Januar 2016 gefragt wurden, ob sie den Rashos im Alltag zur Seite stehen würden.

Große Herausforderungen nach abenteuerlicher Flucht

Da hatte die Familie eine abenteuerliche Flucht hinter sich. Die Kurden kamen aus Syrien über die Balkanroute nach Deutschland, landeten zunächst im halleschen Maritim-Hotel, damals Flüchtlingsunterkunft. Nächste Station war Roßlau, doch nachdem sie Bleiberecht bis 2019 erhielten, suchten sie nach einer Wohnung in Dessau. Mit Hilfe der Popps konnte die im April 2016 bezogen werden. Aber was heißt mit Hilfe der Popps? Was es wirklich bedeutet, miteinander für eine neue Existenz sorgen zu müssen, das haben wohl beide Familien nicht geahnt.

Erste Herausforderung: das gegenseitige Vertrauen. Das muss wachsen und entsteht nicht, wenn einer für den anderen alles regelt. Doch die deutschen Formulare - Christoph Popp: „Warum gibt es die nicht in Arabisch?“ - waren für Rashos zunächst komplett unverständlich. Sie konnten nur Kurdisch und Arabisch. Eine App auf dem Smartphone sollte helfen. Nicht immer klappte das, doch ein Dolmetscher war auch nicht stets zur Hand. Inzwischen gelingt die Verständigung auf Deutsch schon ganz gut. Nächste Aufgabe: Ahmad.

Noch heute ist Ursula Popp erschüttert, wenn sie schildert, wie sie den behinderten Jungen anfangs erlebten. Zusammengesunken saß er da, schaute nicht auf, sagte kein Wort. Für ihn die passende Schulbildung zu finden und zu organisieren - das glich einem Hindernislauf, der den deutschen Helfern einiges abverlangte. Allein hätten Rashos das wohl nicht so schnell geschafft. Die Heideschule in Zerbst, die der heute 13-Jährige besucht, bewirkte Wunder. Aus Ahmad wurde ein fröhlicher Junge, durchaus gewitzt, der sich ziemlich gut in seiner neuen Sprache verständigen kann.

Mission nach Eingliederungshilfe und Wohnungssuche nicht beendet

Das beweist er an diesem Nachmittag an der Kaffeetafel, wo er von seinem Schulalltag berichtet. Von den anderen Jungs erzählt und davon, dass er leider keine Freundin hat. Aber auch, wie sehr er als Behinderter in seiner syrischen Schule verachtet und vom Lehrer geschlagen wurde. Dass er sich so gut entwickeln konnte, „das hat uns die Seelen der Rashos geöffnet“, sagt Ursula Popp, die einstige Ingenieurökonomin. Mutter Hendrinas Augen leuchten, wenn sie Ahmad zuhört.

Dass er hier zur Schule gehen kann und Erfolgserlebnisse hat - das sei für sie am Wichtigsten, sagt sie. Manches kann sie schon auf Deutsch ausdrücken, anderes übersetzt die Tochter. Louren ist ein aufgewecktes Mädchen, das so schnell so gut Deutsch gelernt hat, dass es den Eltern nun helfen kann. Das, spürt man, macht die Neunjährige ziemlich stolz. Auch Hendrina und Masoud Rasho versuchen, sich die fremde Sprache anzueignen. Das ist nicht einfach für beide, doch Fortschritte sind unüberhörbar. Und so kann Hendrina selbst sagen, dass sie sehr dankbar ist „für die Hilfe von Oma und Opa“. Die Sache mit der Wohnung, glaubt sie, hätten sie allein nicht organisieren können. „Doch“, widerspricht Christoph Popp, „ihr seid doch klug.“

Eigentlich hatten die Popps gedacht, nach der Eingliederungshilfe und Wohnungssuche sei ihre Mission beendet. Doch längst sind die Bindungen so eng geworden, dass es bei ihrer Rolle als Oma und Opa bleiben wird. Dabei ist so ein Umgang miteinander nicht einfach. „Die Rashos haben selbstverständlich eine ganz andere Kultur“, sagt Christoph Popp. „Ich weiß heute, dass ich ihre Vorstellungen von Familie und Zusammenleben nicht ändern kann, bestimmte Prägungen bleiben da eben.“

Es fällt schon auf, dass die traditionelle Rollenverteilung in der Familie eine andere ist und die Jungen entsprechend erzogen werden. Was macht man da? Natürlich hält Christoph Popp, einst Chemiker von Beruf, mit seiner Einstellung zu den Dingen nicht hinter dem Berg. Doch er weiß auch: Integration kann nicht bedeuten, Fremde zu Deutschen zu machen. Deren eigene Lebensentwürfe gilt es ebenso zu respektieren.

Nach Sprachlehrgang folgt berufliche Qualifikation und Anpassung

Der 45-jährige Masoud ist Schweißer, zurzeit besucht er noch den Sprachlehrgang, danach folgt eine berufliche Qua1ifikation und Anpassung. „Doch dann wird er wohl von einer Zeitarbeitsfirma angestellt und auch weit entfernt von seiner Familie eingesetzt werden - gänzlich unüblich in seinem Kulturkreis“, sagt Christoph Popp und wünschte sich, dass „im Jobcenter mehr mitgedacht und sich in die Lage der Flüchtlinge hineinversetzt wird“.

Gleiches gilt für die 40-jährige Hendrina, die zur Altenpflegerin ausgebildet werden soll. Sie selbst würde lieber mit Kindern arbeiten, ihre Schwester, erzählt sie, sei Lehrerin. Mit ihren immer besser werdenden Deutschkenntnissen könnte man sie sich beispielsweise in einem Kindergarten gut vorstellen. Dort wäre es vermutlich zudem ein Gewinn, eine Arabisch sprechende Erzieherin zu haben, die aus ihrer Kultur heraus eine Brücke zu anderen Flüchtlingseltern und -kindern bauen könnte.

Der Kontakt zu anderen, der liegt dem Ehepaar sehr am Herzen. Das ist zu spüren an der reich gedeckten Kaffeetafel, die einmal mehr verdeutlicht: Gastfreundschaft wird in ihrer Heimat ganz groß geschrieben. „Da bogen sich die Tische“, sagt Ursula Popp über eine Zusammenkunft mit Rashos und anderen Flüchtlingen, bei der sie eingeladen waren. Enge Nachbarschaft, wie sie in Syrien üblich war, die wünschen sich Rashos, die vermissen sie am meisten, sagen sie. Vielleicht klappt es ja in der Gartenanlage, in der sie stolz zeigen, was sie auf ihrem kleinen Grundstück in kurzer Zeit geschafft haben. Bis zu den Nachbargärten kein Unterschied mehr zu erkennen ist, wird es noch etwas dauern. Doch wenn liebevolles Anschauen beim Wachsen hilft, wird es werden, und sogar der kleine vom Vater gepflanzte Olivenbaum bald ein ordentliches Bäumchen sein. (mz)