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Zwischen Wüterich und Träumerle

Von Corinna Nitz 29.10.2004, 15:21

Wittenberg/MZ. - Am Dienstagabend zitiert die Ärztin Käthe Niederkirchner aus diesem Protokoll einer Lehrerin, und es lohnt sich, den Inhalt hier ungekürzt wiederzugeben. Denn er beschreibt genau das, worum es bei diesem Gesundheitsforum im Wittenberger Paul-Gerhardt-Stift geht: das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, kurz ADHS genannt. Die Kapelle des Krankenhauses ist brechend voll. Bis auf den Flur hinaus drängen sich die Besucher. Das ist auch bei den letzten Foren häufiger der Fall gewesen, aber noch nie mussten zusätzliche Stühle von der benachbarten Station geholt werden.

Unter den Gästen finden sich etliche Lehrer, ein Schulleiter wird gesichtet. Erzieher und Eltern sind gekommen, weil viele ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit ADHS-Kindern haben. Andere wiederum interessiert vor allem, ob dieses Syndrom nun eine Krankheit ist oder wohl doch eine Modeerscheinung. Für die aus Berlin angereiste ADHS-Spezialistin Niederkirchner stellt sich diese Frage nicht. "Es ist eine Krankheit", betont sie mit Nachdruck. Glaubt man den von ihr vorgelegten Ergebnissen jüngster Hirnforschungen, handelt es sich sogar um eine angeborene "Erscheinung", bei der bestimmte Botenstoffe ihr Ziel nicht erreichen. Nur mit Hilfe von penibler Beobachtung, konsequent-verständnisvoller Intervention und, wenn's gar nicht anders geht, dem gezielten Einsatz von Medikamenten, könne diese Krankheit in den Griff bekommen werden. Heilbar sei sie nicht. "ADHS hat man lebenslänglich."

Informativ und anschaulich erläutert Niederkirchner, die nach jahrelanger Tätigkeit an der Charité nun eine Spezialpraxis in der Hauptstadt führt, Symptome des ADHS. Sie spricht vom "Träumerle", das immer unaufmerksam ist, ständig etwas verbummelt, sich unentwegt ablenken lässt und Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden kann. Sie beschreibt den "Wüterich", der an Impulsivität schon im Kleinkindalter kaum zu überbieten ist, in einem fort plappert, stört und um jeden Preis - siehe Thomas - auffallen muss. Wieder andere zappeln, klettern exzessiv und haben scheinbar kein Gespür für gefährliche Situationen, weshalb sie sich häufiger als andere Kinder schwerwiegende und behandlungsbedürftige Verletzungen zuziehen.

Kommen alle drei Komponenten zusammen und zwar dauerhaft, dann sprechen die Experten von ADHS. Dann muss gehandelt werden, will man vermeiden, dass diese anstrengenden Kleinen zu großen Verlierern heranwachsen. Niederkirchner macht keinen Hehl daraus, dass sich dieses Unterfangen kompliziert gestalten kann. Schon die Diagnostik sei nicht einfach. Noch schwieriger jedoch, als das ADHS einwandfrei nachzuweisen, sei es, Eltern und Lehrer aus dem Teufelskreis von Ermahnungen und Frustration zu holen. Stets müssten darum alle, die mit einem betroffenen Kind zu tun haben, kooperieren. Dem Zappelphilipp und Wüterich etwa rät die Ärztin zudem zu körperlichen Aktivitäten, damit der Bewegungsdrang kontrolliert ausgelebt werden kann. Und ausdrücklich plädiert sie für die von Einzelnen in Zweifel gezogene medikamentöse Therapie. Daran sei nichts schlechtes. "Wenn es einem Kind besser geht, ist es egal, wie ich ihm geholfen habe." Einem Diabetiker würde auch niemand das Insulin entziehen.

Letztlich, das macht die Medizinerin unmissverständlich deutlich, sei es immer eine ganz individuelle Behandlung. "Jeder Fall ist anders." Sie betont aber auch, dass nicht hinter jeder Unaufmerksamkeit oder einer rappeligen Phase gleich ADHS steht.