Zeitgeschichte Zeitgeschichte: Wasserturm sieht aus wie ein Sieb
BOBBAU/MZ. - Krieg ist das schrecklichste Wort in der Menschheitsgeschichte und drückt alle Leiden aus. Auch wir in unserer Gegend lernten ihn in seiner brutalsten Art kennen. Auf unserem Friedhof in Bobbau wurden 95 Soldaten beerdigt, die alle bei den Kämpfen um unseren Ort gefallen sind. Es waren schreckliche Tage.
Die ersten Schüsse jagten am 14. April 1945 durch unser Dorf. An diesem Tag fiel der erste Soldat. Am 15. April begann dann der massive Angriff auf Bobbau. Hauptsächlich die Dorfstraße hat es getroffen: Die meisten Gehöfte waren abgebrannt und die noch standen, waren durch Granattreffer schwer beschädigt. Der Kirchturm hatte mehrere Treffer abbekommen, er war nur noch eine Ruine. Der Wasserturm sah aus wie ein Sieb. Mehrere Treffer waren im Inneren explodiert, so dass die Geräte beschädigt wurden und kein Wasser mehr geliefert werden konnte.
Erschossenes Vieh lag überall herum. An der Schule in der Friedensstraße lag eine tote Kuh. Da es nichts zu essen gab, kamen die Anwohner in einer Feuerpause mit Schüsseln und Messern, um sich davon Fleisch zu holen. Innerhalb kurzer Zeit lag nur noch das Fell auf der Straße, das später auch verschwunden war.
Das Jahr 1945 hatte ein sehr warmes und zeitiges Frühjahr. So konnte man bereits am 1. April Spargel stechen. In den Feuerpausen rannten wir in den Garten. Einer buddelte den Spargel frei, einer erntete ihn, und der dritte machte das Loch wieder zu. In so einer Feuerpause stand ich vor der Haustür. An der Schulhofsmauer lag ein gefallener Soldat. An der Hauswand des Nachbargrundstücks lag ein totes Pferd, das von der Hitze ganz aufgequollen war. An unserer Hauswand lag ein totes Schwein. Zwei Sanitäter trugen auf einer Krankenliege einen Schwerverletzten mit einem Bauchschuss vorbei. Er schrie und schrie, bis er plötzlich ruhig war. In den Abendstunden des 20. April 1945 wurde Bobbau nach erbitterter Panzerschlacht und Straßenkämpfen von den Amerikanern eingenommen.
Als wir aus dem Luftschutzkeller kamen, konnten wir es gar nicht fassen, wie alles aussah. Viele Soldaten waren gefallen und lagen auf den Straßen. Am schlimmsten war es am Wasserturm, denn da sind die deutschen Soldaten als Marschkolonne in die Maschinengewehrgarben der Amerikaner gelaufen. Sie hatten keine Ahnung, dass der Feind so nahe war. Auf dem Friedhof hat man sie beerdigt. Auch auf dem Friedhof in Siebenhausen sind Soldatengräber. Ein ehemaliger Leutnant der Wehrmacht schrieb mir in einem Brief über seinen Kampfeinsatz in Siebenhausen, bei dem er schwer verwundet wurde. In der Scheune in der Alten Straße 12 war ein Verbandsplatz eingerichtet. Auch sie wurde in Brand geschossen. Vor diesem Haus war eine Panzersperre. Davon gab es mehrere im Ort.
Die Versorgung der Bevölkerung war eine Katastrophe. Der Kaufmann Daum, dessen Geschäft in der Friedensstraße 28 völlig ausgebrannt war, hatte in der Schule in einen Laden als Notbehelf eingerichtet, denn Unterricht wurde nicht gehalten. Da kann ich mich noch erinnern, dass zum Beispiel pro Person in der Woche 15 Gramm Butter abgegeben wurde. Die Lebensmittelkarten, die wir im Krieg hatten, waren ungültig geworden. Die Kinder wurden mit einer warmen Mahlzeit aus der amerikanischen Verpflegungsstelle versorgt. Die im Krieg Geborenen aßen zum ersten Mal Schokolade. Sie hatten ja so etwas noch nie gesehen, geschweige denn gegessen.
Und damit sind wir schon in der Nachkriegszeit. Was waren die dringendsten Arbeiten? Das erste, was gemacht wurde, war das Aufräumen. Die Gefallenen wurden beerdigt, die Tierkadaver beseitigt und das umherliegende Kriegsmaterial weggeräumt. Trotzdem sind noch drei Kinder beim Spielen mit Munition ums Leben gekommen. Ein zerschossener Panzer stand vor dem Gehöft in der Dorfstraße 13. Erst im Jahre 1948 wurde er von einer Spezialtruppe auseinander genommen und entsorgt. Die Stromversorgung war zusammengebrochen, das Wasserwerk war durch mehrere Volltreffer ausgefallen. Nur an bestimmten Hydranten konnten wir außerhalb der Sperrstunden Wasser holen. Auch die Panzersperren wurden beseitigt und die Baumstämme zum Heizen freigegeben.
Dann waren noch die Sperrzeiten, an denen wir nicht auf die Straße durften. So konnten wir uns vormittags und nachmittags je zwei Stunden frei auf der Straße bewegen, durften aber den Ort nicht verlassen. Trotz des Verbotes sind wir über die Felder nach Wolfen gelaufen und haben Brot gekauft, bei uns gab es keins mehr. Das war gefährlich, da wurde von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.
Nun hatten wir in Bobbau auch polnische Kriegsgefangene, die den Bauern während des Krieges bei der Arbeit geholfen hatten. Die waren nun frei, und ein großer Teil von ihnen versuchte zu plündern, hauptsächlich bei den Bauern. Mit Pferd und Wagen und diversen Dingen, die sie sich angeeignet hatten, fuhren sie nach Polen. Auch die aus dem Rheinland stammenden Evakuierten begannen sich zu regen. Mit Fahrrädern und Handwagen, beladen mit ihren Habseligkeiten, zogen sie in Richtung Westen - ihrer Heimat entgegen. Eine Zugverbindung gab es nicht, es war ja alles kaputt. Auf Bobbauer Gebiet war einige Panzer und Panzerspähwagen, die zerschossen waren und entsorgt werden mussten. In der Leipziger Straße passierte es, dass sich ein Panzer vom Abschleppfahrzeug löste und in ein Wohnhaus fuhr. Die Hauswand wurde dabei eingerissen. Personenschaden entstand nicht.
Und was trieben die Amis sonst im Dorf? Sie fuhren mit ihren Panzern durch die Straßen. Mit Puppen, Sofakissen und Hakenkreuzfahnen hatten sie die geschmückt. Mit Plakaten und Orden aus der Zeit des Dritten Reiches waren ihre Uniformen garniert. Man sammelte Souvenirs.
Am 1. Juli 1945 zogen die Amerikaner ab und die Rote Armee ein. Wir bekamen ein anderes Gesellschaftssystem. Die ersten Soldaten kehrten aus der Gefangenschaft heim. Es gab kaum was zu essen. So begann in den Großstädten der Schwarzmarkthandel zu blühen. Da bezahlte man für ein Brot 80 Mark, für einen Salzhering zehn Mark. Und das bei einem Stundenlohn von 75 Pfennigen. Aus den Städten kamen die Menschen zu den Bauern und tauschten Gegenstände gegen Lebensmittel. Aber auch die Bauern hatten nicht viel, sie mussten alles an den Staat abliefern. Man hatte ihnen das Futter und Saatgetreide aus der Scheune geholt. Die Tiere waren so schwach.
Lebensmittelkarten wurden wieder eingeführt. Aber was gab es? Es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Wohlstandskrankheiten gab es nicht. Man suchte also nach Lebensmittelersatz. So gab es Nährhefe. Daraus wurde Leberwurst gemacht. Marmeladenpulver fand Verwendung als Brotaufstrich. Falscher Hering wurde aus Kartoffelwalzmehl zubereitet. Ährenlesen und Kartoffelstoppeln waren angesagt. Zuckerrüben wurden gestoppelt, um nach aufwendiger Arbeit aus dem ausgepressten Rübensirup - vermischt mit Möhren und Birnen - Rübenmus zu machen. Ein Marmeladenglas mit selbstgekochtem Rübensaft aus dem Jahre 1947 besitze ich noch. Es steht in meinem Kühlschrank und erinnert mich an die Zeit, in der wir ganz unten waren.
Da es kein Brennmaterial gab, wurden wir auch hier zum Selbstversorger. Am 13. Januar 1947 beschloss die Gemeindevertretung, dass die Kastanien in der Friedensstraße als Brennholz dienen sollten. Auch der gesamte Baumbestand in den Karnickelbergen fiel der Säge zum Opfer. Jedoch hier war ein Stubbenroden nicht gestattet, da die Bäume wieder ausschlagen sollten. Im Februar 1948 wurde die Friedensstraße mit Linden bepflanzt, und die Karnickelberge begrünten sich wieder. Sehr schlecht war es auch in den ersten Nachkriegsjahren mit der Belieferung von Kohle. Da es ja bei uns Braunkohle im Tagebau gab, zog man mit Handwagen und Spitzhacke los. Andere wiederum standen am Bullenteich am Haltesignal der Bahn und warteten, dass ein Kohlenzug kommt. Kam dann einer und musste am Signal halten, sprangen die Leute hoch und warfen so viel Kohle runter, wie nur irgend möglich war. Auflesen konnte man immer noch. Solche Aktionen waren natürlich verboten, und man durfte sich nicht erwischen lassen. Denn wenn die Kohle gestohlen wurde, konnten zum Beispiel die Bäcker, für die sie bestimmt war, kein Brot backen. Wen kümmerte das schon? Damals regierte der reinste Selbsterhaltungstrieb. Es war ein Teufelskreis.
Mit dem Kampf ums Überleben gehen die ersten Nachkriegsjahre vorbei. Ganz allmählich wandelte sich die Lebensform.