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Wladimir Kaminer in Wolfen Wladimir Kaminer in Wolfen: Das Leben ist eine Schatzkiste

Von Detmar Oppenkowski 15.09.2014, 18:48

Wolfen - Das Familienleben ist eine Schatzkiste. Davon zeugen Wladimir Kaminers Alltagsbeobachtungen. Pointiert hat der in Berlin lebende Schriftsteller all die Erlebnisse mit seinen beiden Kindern und deren Freunden auf 300 Seiten niedergeschrieben. Im voll besetzten Wolfener Kulturhaus gab er Auszüge aus dem neuen Buch „Coole Eltern leben länger - Geschichten vom Erwachsenwerden“ zum Besten. Dabei ist die Essenz schnell klar. „Kleine Kinder, kleine Sorgen - große Kinder, große Sorgen“, lautet die Kernaussage all seiner Texte.

Damit sich die Pubertät für alle Beteiligten aber nicht zum Albtraum entwickelt, hat Kaminer ein einfaches Rezept parat: „Die Rebellion im Kinderzimmer ist nicht aufzuhalten, besser also, sich mit Gelassenheit zu wappnen und die Kinder zwischendurch auch einfach mal in Ruhe vor sich hin reifen zu lassen.“

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau als Sohn einer Lehrerin und eines Betriebswirts geboren. Er leistete in einer Raketenstellung vor Moskau seinen Wehrdienst ab und erlebte dabei den von der sowjetischen Flugabwehr unbemerkten Einflug des westdeutschen Privatpiloten Mathias Rust mit, der anschließend auf dem Roten Platz landete.

Noch vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober erhielt er die Staatsbürgerschaft der DDR und danach automatisch die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft.

Aber Kaminer wäre nicht Kaminer, wenn er zwischen den einzelnen Kurzgeschichten nicht immer wieder abschweifen und frei über Gott und die Welt schwadronieren würde. Und so berichtet der gebürtige Moskauer mit schwerem russischen Akzent beispielsweise von den Begegnungen mit Ostdeutschen. „Wissen Sie, was uns verbindet?“, will er wissen und beantwortet die Frage selbst: „Es ist das Wort Dostoprimecatelnost.“ Aus dem Russischen übersetzt bedeutet das Sehenswürdigkeit.

Den russischen Zungenbrecher bekommt Kaminer auf seinen Lesereisen immer wieder zur Begrüßung zu hören. „Er ist offensichtlich ein Teil eines geheimen Codes.“

"Wo bleibt die Freundschaft?"

Aber auch von anderen Erlebnissen zwischen den Menschen der ehemaligen Bruderstaaten erzählt er. So hielten ihm Ostdeutsche - die seine Lesungen besuchten - ab und an ihr Mitgliedsbuch der deutsch-sowjetischen Freundschaft unter die Nase und fragten: „Wir haben bezahlt, wo bleibt die Freundschaft?“

Mit diesen und ähnlichen Anekdoten könnte der Abend eigentlich gemütlich ausklingen, doch die anhaltende Krise in der Ukraine ist auch für den in Deutschland lebenden Russen allgegenwärtig.

Und so berichtet er etwa von dem Wehrdienst, den er von 1985 bis 1987 in einer Raketenstellung vor Moskau leistete oder über das russische Fernsehen, dass - wenn man Kaminers Worte richtig interpretiert - den Konflikt in Wort und Bild umdeutet und so für viel Befremden sorgt. Denn Kaminer organisiert regelmäßig die erfolgreiche Tanzveranstaltung „Russendisko“. Dort wird die Musik von Bands gespielt, die aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammen und in Westeuropa weitgehend unbekannt sind. Sein Partner an diesen Abenden ist Yuriy Gurzhy - ein Ukrainer aus dem russischsprachigen Ostteil des Landes, mit dem Kaminer beim ehemaligen Berliner Sender „Radio Multikulti“ begonnen hat.

"Schlafen gegen den Krieg"

Dessen Sohn Boris - so schildert es der Journalist und Autor - schaue vor dem Schlafengehen regelmäßig eine russische Gute-Nacht-Fernsehsendung für Kinder, in der unterschiedliche Plüschtiere auftreten. Eines Abends sei eine der Figuren - allerdings ist das schwer zu überprüfen - mit einer Tarnfleckuniform und einer Kalaschnikow im Fernsehen zu sehen gewesen und habe gemeint, dass man die Russen in der Ukraine - in der Gegend um Donezk - schützen müsse.

Das ist selbst dem gestandenen Geschichtenerzähler zu viel. Er sagt: „Das war der Moment, wo ich mir sagte, dass ich früher - also vor diesen russischen Sendungen - schlafen gehen muss.“ Folglich heißt der Text dann auch: „Schlafen gegen den Krieg.“

Trotz der Leichtigkeit der Erzählung ist die Aussage klar. Und so entlässt Kaminer seine Zuhörer am Ende eines unterhaltsamen Abends nachdenklich in die Nacht. (mz)