Wende 1989 in der DDR Wende 1989 in der DDR: Herbst 89 hinterm Stacheldraht der NVA

Wolfen - Den Fall der Mauer im Herbst 89 erlebt er hinter Stacheldraht. Alles beginnt mit einem Brief, der im September ins Haus flatterte. Andreas Kind und seine Familie kommen gerade aus dem Urlaub zurück, als er aufgefordert wird sich beim Wehrkreiskommando Bitterfeld zu melden. Der heute 53-jährige Wolfener wird noch im Oktober zum Reservistendienst der Nationalen Volksarmee (NVA) in die Nähe von Berlin eingezogen. Nach seiner Dienstzeit ist nichts mehr wie vorher.
Nun - 25 Jahre später - sitzt er in seinem Wohnzimmer und hält wieder ein Stück Papier in der Hand. Darauf hat er geschrieben, was ihm zwischen 17. Oktober und 15. Dezember 1989 widerfahren ist. „Viele Jahre habe ich mit dem Erlebten gekämpft.“ Jetzt erzählt er seine Geschichte.
Eine unruhige Zeit
Es beunruhigt ihn, dass er in dieser Zeit des Umbruchs Frau und Sohn zurücklassen muss. Die Bilder von den besetzten Botschaften in Prag und Warschau, die Montagsdemonstrationen in Leipzig und von DDR-Bürgern, die über Ungarn ausreisen, ziehen auch an Andreas Kind nicht spurlos vorbei. „Sogar in Wolfen-Nord liefen einige Leute auf der Straße und riefen ,Schließt euch uns an’“. Das war natürlich nicht mit Leipzig zu vergleichen.“ Und dennoch: „Es war eine sehr unruhige Zeit.“ Rückblickend hat der 53-Jährige gar keine Vorstellung gehabt, was in Kürze passieren würde. „Ich dachte, dass Land wird sich nach Honeckers Ablösung verändern, weil die Leute das wollen. Vielleicht eine Reform.“
Es anderen gleich zu tun und die DDR zu verlassen, wäre Kind aber nicht in den Sinn gekommen. „Warum hätten wir gehen sollen? Wir hatten hier doch alles, Arbeit, Familie, Freunde ... Für uns war das nie eine Option“, ist er sich sicher.
Für Andreas Kind ist der 17. Oktober ein unvergesslicher Tag. Er macht sich nicht nur auf den Weg um seinen Reservistendienst anzutreten, auch DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker wird abgesetzt.
„Das hatte es vorher noch nie gegeben“, erinnert sich Kind. Eine für November angesetzte Sitzung des Zentralkomitees der SED wurde auf den 17. Oktober vorgezogen. Darin wurde der Rücktritt Honeckers von all seinen Ämtern gefordert. Mehrheitlich stimmten die Mitglieder dafür und wählten Egon Krenz zum neuen Generalsekretär.
Und dennoch muss der Wolfener seine Familie und seinen Arbeitsplatz beim Braunkohlekombinat Bitterfeld im Kraftwerk in Holzweißig zurücklassen, um in Müncheberg bei Straußberg seinen Dienst beim Funktechnischen Bataillon 61 anzutreten. Es folgen Tage, die die Reservisten abgeschottet in Zelten verbringen. Sie werden permanent auf ihren geleisteten Fahneneid hingewiesen und immer wieder politisch beeinflusst, dabei fällt auch das Wort „Konterrevolution“ regelmäßig. „Der psychische Druck hat einen fertig gemacht.“
Kurz darauf kommt der Marschbefehl. „Ich dachte, ich würde wieder als Funkorter eingesetzt, wie schon zu Wehrdienst-Zeiten“, so der Wolfener. Doch die Reservisten bewachen von nun an in 48- und 72-Stunden-Diensten die Funkmessstation Wusterwitz - weitestgehend isoliert von anderen Soldaten und der Außenwelt. Die wenigen Informationen, die sie haben, kommen aus der Jugendsendung „Elf99“.
Es ist eine schwere Zeit für die Männer. „Durchgehalten habe ich das nur, weil unter den Reservisten eine große Solidarität herrschte.“ Am meisten belastet sie jedoch, dass sie nur sporadisch Kontakt zu ihren Familien haben. Und nur ein Mal verlässt Kind die Kaserne gen Brandenburg/Havel. „Ich war bei einer Demonstration“, erinnert sich der Wolfener. Kam niemals der Gedanke auf, einfach nicht in die Kaserne zurückzukehren? „Ich wusste was passieren würde, wenn ich fahnenflüchtig bin. Doch wir haben alle ein Entpflichtungsgesuch geschrieben und wollten nur noch nach Hause. Aber der Kompaniechef hat uns voller Arroganz wegtreten lassen.“
Es hat sich nichts geändert
Der Ausflug nach Brandenburg ist der vorerst letzte große Kontakt zur Außenwelt. Dann fällt die Mauer und für viele DDR-Bürger bedeutet dies Freiheit. Für den Reservisten Kind ändert sich vorerst jedoch nichts. „Ein Kamerad hat mir während der Wache erzählt, dass sie die Mauer geöffnet haben. Ich konnte es nicht glauben.“ Doch der damals 28-Jährige führt seine Wachdienste fort und auch in den kommenden Wochen bleibt die heile Welt der NVA erhalten. „Die neuen Soldaten, die im November hätten einberufen werden sollen, kamen nicht. Aber die Vorgesetzten haben einfach weitergemacht, für uns galten Befehle und Dienstvorschriften. Es wurde sogar noch schlimmer.“ Verschärfte Wachdienste und ein Einsatz der Reservisten rund um die Uhr sind die Folge. Auf der anderen Seite, so der Wolfener, brüsten sich die Offiziere damit, dass sie das Begrüßungsgeld von 100 DM schon in Westberlin geholt haben.
Zurück in die Heimat
Erst Anfang Dezember ist es Kind erlaubt, für ein Wochenende nach Hause zu fahren und kurz darauf wird er aus dem Reservistendienst der NVA endgültig entlassen. „Für mich gab es den Moment zum Innehalten am letzten Tag. Da überkam mich das Gefühl von Freiheit“, sagt der Wolfener.
Nach der Öffnung des Kasernentors und mit seiner neu gewonnenen Freiheit fährt Andreas Kind mit einigen Reservistenkollegen nach München, erlebt erstmals in den übervollen Zügen die Abwanderungsbewegung und die Stimmung unter den Menschen. Er verbringt etwas Zeit mit den Männern und holt Westgeld. Danach geht es zurück zu seiner Familie, seiner Arbeit im Braunkohlekombinat und zurück zu seinen Freunden. Von denen sind einige nicht mehr da, sie suchen nun im Westen ihr Glück. Doch Familie Kind ordnet ihr Leben neu. Noch bis 1996 ist der Wolfener im Braunkohlekombinat tätig, als Kraftwerker, dann als Sanierer. Später wird er dann bei Q-Cells arbeiten und sich im Betriebsrat für die Belange seiner Kollegen engagieren.
Auch wenn viele nach der Maueröffnung den Weg in den Westen suchten, für den Wolfener und seine Familie war und ist noch heute hier ihre Heimat.


