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Hilfe vom russischen Fremdarbeiter

03.05.2005, 15:07

Wittenberg/MZ. - An der Zeitzeugen-Serie der Wittenberger MZ-Redaktion zum Thema "60 Jahre Kriegsende" beteiligt sich auch Dorothea Wessolek. Von ihr stammen folgende Zeilen:

Am 10. März 1945 kam ich nach Pratau zu meinen Eltern, um mich gesund pflegen zu lassen. Ich war in Geithain im Lazarett, hatte mich sehr erkältet und mein Stationsarzt schickte mich nach Hause. Auch in unserem Haus waren schon Flüchtlinge aus dem Osten eingetroffen. Jedes Zimmer, jede Kammer waren belegt mit diesen armen Menschen. Als ich nach drei Wochen wieder gesund war, konnte ich nicht nach Geithain zurück, weil da schon die Amerikaner waren. Also musste ich mich woanders melden, um meine Arbeit als Rote-Kreuz-Schwester aufzunehmen: in Kemberg in der Schule - damals Hauptverbandsplatz und Lazarett.

Früh nach Kemberg

Ich nahm alle Tätigkeiten an, die gemacht werden mussten. Früh fuhr ich mit dem Rad von Pratau nach Kemberg und abends ging es wieder heim. In der Ferne hörte man im Süden und im Norden hinter der Elbe leichtes Donnern. Es kam immer näher. Angst hatte ich selten. Einmal hatte sie mich aber doch erwischt: Gegenüber von der Lammsdorfer Ziegelei hatten sich Soldaten aufgehalten. Sie winkten mir noch zu, da kam ein Tiefflieger und beschoss sie. Ich war zirka 100 Meter weiter: Runter vom Fahrrad, in den nächsten Graben, rasch das weiße Häubchen vom Kopf gerissen und gewartet, bis die Gefahr vorüber war.

Im Lazarett kamen immer mehr Zugänge, auch Zivilisten. Wittenberg war schon unter Beschuss. Eine Mutter lag auf einem Strohlager, scheinbar querschnittsgelähmt, ihre beiden kleinen Kinder saßen neben ihr, ängstlich und verstört. Als ich sie am nächsten Tag aufsuchen wollte, war das Lager leer. Sind sie woanders untergebracht worden? Am 19. April kam ich von der Nachtschicht nach Hause. Auf unserem Hof hatte meine Mutter einen Wagen fertig gemacht. Nun kam auch für die Pratauer die Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen. Mein Vater weigerte sich. Er wollte nicht weg. Also sind wir mit unseren Kellerflüchtlingen nach Kemberg geflohen. Das Ziel war meine Großmutter, die in Kemberg wohnte. Aber sie nahm uns nicht auf, da die Wittenberger schon bei ihr waren.

Meine Mutter war eine besonnene Frau. Sie sagte "Hüh" und wir fuhren nach Bergwitz, nach Radis und dann nach Schleesen. Gleich hinter Schleesen packte eine Frau mit ihren Kindern ihr Auto. Sie wollte zu ihrem Mann nach Dessau und gab meiner Mutter den Schlüssel. Wir durften in diesem kleinen Ferienhäuschen wohnen. Nun wollten wir unserem Vater Bescheid geben, wo wir gelandet sind. Das musste ich machen. Bin über Selbitz und Seegrehna nach Pratau gefahren, kurz vorm Haus griff wieder ein Tiefflieger an. Ich brachte mich in Sicherheit.

Mein Vater war nicht mehr da. Er hat sich auf das Fahrrad gesetzt und dachte, wir seien in Kemberg. Meine Großmutter hatte sich wieder beruhigt, vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen, da sie uns so brüsk abgewiesen hatte. Ich habe kehrt gemacht und den gleichen Weg eingeschlagen. Mein Vater hatte sich durchgefragt und ist doch in Schleesen gelandet. Er war beruhigt und ist am anderen Tag wieder nach Pratau gefahren. An dem Tag, als die Elbbrücke gesprengt wurde, kam mein Vater fast quer durch den Wald. Seine linke Hand hatte er mit einem weißen Lappen umwickelt.

Wir freuten uns über ihn. Er setzte sich auf die Eingangsstufen und weinte bitterlich. "Wir sehen Pratau nie wieder." Er berichtet: "Die Russen sind nicht zuerst über die Elbebrücke gekommen, sondern an der Probstei über eine Pontonbrücke, die sie selbst geschlagen haben. Jedes Haus haben sie untersucht. Unser Haus wurde gleich beschlagnahmt." Meinen Vater wollten sie erschießen. Sie bezeichneten ihn als Faschist. Als sie ihn rausführen wollten, kam unser russischer Fremdarbeiter und verteidigte meinen Vater. Verstanden hat er aber nichts. Dann pfiffen Trillerpfeifen draußen. Die russischen Soldaten mussten raus und der Fremdarbeiter sagte zu meinem Vater: "Bring dich in Sicherheit. Die wollen dich erschießen." Und mein Vater türmte. Unterwegs sprach er Herrn Kron noch an: "Kamerad Kron komm mit! Sie wollen alle Männer erschießen!" "Ich bleibe", war die Antwort, "meine Frau habe ich im Schornstein von der Milka versteckt." Später haben wir erfahren, dass Herr Kron erschossen wurde.

Jetzt blieb mein Vater doch bei uns. Aber geschlafen haben wir nicht mehr in dem Häuschen, sondern in der Scheune. Dann ging es Schlag auf Schlag. Auf der Straße von Schleesen nach Selbitz sah ich zuerst Amerikaner. Dann kamen die Russen. Unser Pferd Lotte nahmen sie mit, den Schimmel wollten sie nicht. Am Tage waren wir in unserem Häusel, nachts ging es auf den Heuboden zum Schlafen. Da rief Herr Schulz, so hieß der Bauer: "Herr Irmer, da ist ein Reiter, der will wohl den Schimmel och noch ham." Es war eine ganz klare, helle Nacht. Mein Vater ging zum Tor. Es war unsere Lotte, die sich abgerissen hatte.

Alle Verstecke gefunden

Am nächsten Tag sahen wir Männer in Zivil durch den Wald laufen. Sie johlten und lachten und riefen, uns wurde Bange. Schluss jetzt, sagte mein Vater: "Wir fahren wieder nach Pratau". Es war der 5. Mai. Ich fuhr mit dem Fahrrad, hängte mich an den Wagen und kurz vor Selbitz überholte uns ein blauer Opel, er hielt an. Zwei russische Offiziere stiegen aus, stoppten uns, fragten ganz freundlich nach dem Weg zur Elbe und fuhren weiter. Nur ich konnte nicht mehr und bin mit auf den Wagen geklettert. Mein Fahrrad hatte auch noch Platz.

Die Pferde trabten: Selbitz, Seegrehna und dann noch die Kienberge. Da standen Männer, die uns warnten, nach Pratau zu fahren. Jedenfalls die Frauen sollten in Kienberge bleiben. Ich habe das auch gemacht. Meine Mutter ist mit meinem Vater weitergefahren. Sie fanden ein verwüstetes Haus vor. Alle Verstecke waren aufgebrochen. Sie haben alles gefunden.

Zwei Schafe hatten wir noch. Die sind von den russischen Soldaten geschlachtet worden. Das Fell mit den Köpfen war noch da. Diese Schafe sind in unserer Küche zubereitet worden. Einen Sack Pfennige hatte ich gesammelt. Die waren auch verstreut zwischen festgetretenen Bierdeckeln. Gleich ging es mit dem Aufräumen los. Sieben Kiepen Dreck bargen wir aus einem Zimmer. Mein Vater hat die zwei Schafsköpfe fein säuberlich aus dem Fell getrennt. Den einen Kopf hat er gekocht und den anderen gebraten. Vier Tage gab das ein festliches Essen.