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Größtes Chemieunglück der DDR Größtes Chemieunglück der DDR in Bitterfeld: Ein todbringender Funke löschte vor 50 Jahren 42 Menschenleben aus

Von Stefan Schröter 11.07.2018, 04:00
Nach der Explosion stand kein Stein mehr auf dem anderen. Es begann die Suche nach Überlebenden unter den Trümmern. Nun soll in der Zörbiger Straße an diese gedacht werden.
Nach der Explosion stand kein Stein mehr auf dem anderen. Es begann die Suche nach Überlebenden unter den Trümmern. Nun soll in der Zörbiger Straße an diese gedacht werden. Klaus Plewa

Bitterfeld - Es war das größte Chemieunglück in der Geschichte der DDR: Eine schwere Explosion hat am 11. Juli 1968 Bitterfeld erschüttert. Im PVC-Werk des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld (EKB) entzündete sich ausgetretenes Vinylchlorid-Gas.

Die Katastrophe vor 50 Jahren legte mehrere Anlagen des EKB in Schutt und Asche. 42 Menschen starben im Werk Süd, weil sie von der Druckwelle oder von Flammen erfasst wurden. Rund 270 Verletzte kamen in Krankenhäuser.

„Es war eine schlimme Katastrophe, viele Menschen hatten Verbrennungen am ganzen Körper“, erinnert sich Facharzt Karl Ernst Hildebrandt. Der Mediziner war damals Assistenzarzt im Bitterfelder Krankenhaus. „Wir waren teilweise völlig ratlos. Auf dem Weg in den OP-Saal mussten wir über Verletzte steigen, die in den Gängen lagen und um Hilfe schrien.“

Erst in den 50er Jahren hatte die DDR-Regierung mit einem Chemieprogramm dieses Werk im EKB ausgebaut

Wie konnte es zu der Katastrophe kommen? In dem Werk wurde bei Hitze und unter hohem Druck das begehrte PVC produziert. Erst in den 50er Jahren hatte die DDR-Regierung mit einem Chemieprogramm dieses Werk im EKB ausgebaut.

Das Material brauchte der Staat für die Produktion von Bodenbelägen, Tischdecken, Rohren, Schuhen und mehr. Der Chemiepark ist die Wiege des PVC, hier ist der Stoff im Jahr 1913 erfunden worden.

Aber die Erfolgsgeschichte geschah oft zulasten der Sicherheit. Das war bekannt. „Das war ein Ritt auf der Rasierklinge“, meint Peter Krüger. Der ehemalige EKB-Arbeiter ließ sich aus der PVC-Fabrik wegversetzen, weil er Angst um seine Gesundheit hatte. Immer wieder hatte er erlebt, wie PVC-produzierende Autoklaven „abgeblasen“ werden mussten, weil der Druck im Inneren der Zylinder zu sehr anstieg. Dabei entwich das gefährliche Vinylchlorid-Gas ungefiltert in die Halle.

Kilometerweit war die Katastrophe im Bitterfelder PVC-Werk deutlich sichtbar

Unzählige Mal ist nichts passiert im PVC-Werk zwischen der heutigen Zörbiger Straße und dem Bahnhof Bitterfeld. Wenn es bedrohlich wurde, ertönte ein Alarm. Dann verließen die Mitarbeiter die Halle und kehrten wenig später wieder zu ihrer Arbeit zurück.

Doch am 11. Juli kehrten sie nicht mehr zurück. Das aus dem Autoklaven Nummer 7 ausgeströmte Vinylchlorid entzündete sich. Es füllte die PVC-Halle und kroch auf dem Boden ins Freie. Irgendwo löste dann ein Funke das Unheil aus.

Durch die Detonation stieg eine hohe Rauchwolke auf. Kilometerweit war die Katastrophe so deutlich sichtbar. Mancher Augenzeuge vermutete angesichts des Rauchpilzes gar einen Test mit Atomwaffen oder die Explosion von Munition. Das ist Berichten der Staatssicherheit zu entnehmen. Sie protokollierte „Zweifel an der Produktion von Vinylchlorid im PVC-Betrieb“ in ihren Abhörberichten.

Betten in Kliniken rund um Bitterfeld wurden nach der Explosion knapp

Nach der Explosion herrschte Chaos in der Stadt. „Wir waren auf so ein Unglück gar nicht vorbereitet“, erklärt der 74-jährige frühere Arzt Karl Ernst Hildebrandt. Immer mehr Menschen landeten am Nachmittag in den Krankenhäusern.

Sie kamen teils auf Fensterläden in die Einrichtungen, da die Tragen nicht ausreichten. Mit Schreibmaschine erstellte Verletztenlisten sind mit Kugelschreiber nach oben korrigiert worden. Um freie Betten zu schaffen, kam es zu Notentlassungen und Verlegungen von anderen Patienten.

Am Unglücksort bahnten sich Rettungs- und Hilfskräfte ihren Weg durch Schuttberge. Zu ihnen gehörte auch der EKB-Arbeiter Peter Krüger. „Viele Menschen, die ich kannte, waren plötzlich tot, das war furchtbar.“ Oft wurden sie von Trümmern erschlagen. Im Umkreis von Hunderten Metern zerbrachen Fensterscheiben, überall lagen Scherben. Unzählige Arbeiter wurden zunächst vermisst. Viele von ihnen konnten nur tot geborgen.

Unter den Trümmern drohten chemische Prozesse weitere Explosionen auszulösen

Nach der Explosion war die größte Gefahr aber noch nicht gebannt. Denn unter den Trümmern liefen die chemischen Prozesse in einigen der insgesamt zwölf Autoklaven weiter. Sie drohten, außer Kontrolle zu geraten und weitere Explosionen auszulösen. „Einige knisterten schon“, erinnert sich Krüger. Er kletterte durch die zerstörte Halle und drehte – unterstützt von der Feuerwehr – Ventil für Ventil auf und entlastete dadurch die Autoklaven.

Zumal außerhalb des PVC-Werks noch eine viel größere Gefahr lauerte: zwei Kesselwagen voll mit flüssigem Vinylchlorid. Sie standen mitten im Trümmerfeld auf den Gleisen und beinhalteten ein Vielfaches der Menge, die in einen Autoklaven passte. „Wenn nur einer davon explodiert wäre, wäre von Bitterfeld nicht viel übrig geblieben“, sagt der Ex-EKB-Arbeiter Helmut-Jürgen Rothe.

Viele Menschen brachen zu den Krankenhäusern auf, um sich nach ihren Angehörigen zu erkundigen

Doch auch ohne dieses Horrorszenario spielten sich unzählige Tragödien in der Bevölkerung ab. Viele Menschen brachen zu den Krankenhäusern auf, um sich nach ihren Angehörigen zu erkundigen.

Manchmal konnten die Ärzte Entwarnung geben, manchmal mussten sie ihr Beileid ausdrücken. Die EKB-Poststelle musste Dutzende Telegramme mit Nachfragen aus der Bevölkerung beantworten, ist Dokumenten aus dem Landesarchiv in Merseburg zu entnehmen.

Die Abteilung Grundstoffchemie beschrieb die Katastrophe im August 1968 als folgenschwerstes Unglück der chemischen Industrie in der DDR. Neben dem menschlichen Leid wird der wirtschaftliche Schaden auf Hunderte Millionen Mark geschätzt. Der PVC-Betrieb wurde nicht wieder aufgebaut, die Fertigung nach Schkopau verlagert. (mz)

Der Schaden wird auf Hunderte Millionen Mark geschätzt.
Der Schaden wird auf Hunderte Millionen Mark geschätzt.
Bundesarchiv