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Unsichtbare Gefahr in Bitterfeld Giftmüllserie - Teil 1: "Zwei drei volle Talsperren" - Bitterfeld-Wolfen: 200 Millionen Kubikmeter Grundwasser belastet

Von Sabine Adler 08.04.2019, 12:00
Die Giftstoffe wurden früher direkt aus den Kesselwagen heraus entsorgt. 
Die Giftstoffe wurden früher direkt aus den Kesselwagen heraus entsorgt.  MDSE

Bitterfeld-Wolfen - Sie heißen Hermine, Freiheit III, Freiheit IV, Greppin oder Antonie. Unscheinbare Schilder an Zäunen oder Toren weisen sie aus, verraten aber nichts über die Gefahr, die von den neun Giftmülldeponien in Bitterfeld-Wolfen ausgeht. Auch heute, wo der moderne Chemiepark längst die maroden DDR-Betriebe verdrängt hat.

Vor allem die Grube Antonie an der B 184 ist eine Klasse für sich: Sechs Millionen Kubikmeter Müll, die Hälfte davon hochgiftige Substanzen. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig verzeichnet unter anderem 76.000 Tonnen HCH aus der Lindan-Produktion, 48.000 Tonnen DDT-Schlämme, 19.000 Tonnen Hexachlorethane, 13.000 Tonnen Chlorbenzole beziehungsweise 70.000 Tonnen Schwefelsäure, die zu DDR-Zeiten direkt aus Eisenbahnkesselwaggons über Schläuche in die Deponie Antonie abgelassen wurden.

Ständig durchspült und mit giftiger Fracht durchsetzt

Weil die Grube Antonie 20 Meter tief ist, liegen all diese Stoffe und Verbindungen, die aus ihnen neu entstanden sind, zumindest teils im Grundwasser, das sie ständig durchspült und dabei jede Menge giftige Fracht aufnimmt.

Fred Walkow, promovierter Chemiker, der in der Forschung der ORWO-Filmfabrik und danach bis 2015 Umweltdezernent des Landkreises Anhalt-Bitterfeld war, hat noch genau vor Augen, wie sich Wildschweine und Vögel in dem unter freiem Himmel abgelagerten HCH an der Grube Antonie suhlten, um damit ihre Schädlinge im Fell und in den Federn zu bekämpfen.

Die Produktion der Insektizide beziehungsweise Pestizide DDT und Lindan, bei deren Herstellung große Mengen HCH-Abfälle entstehen, war zwar auch in der DDR teilweise oder ganz verboten, doch erst als die Abfälle sich längst türmten. Der Giftmüll aus dem Chemiekombinat, der Film- und Farbenfabrik verursacht, was heute ein ÖGP, ein Ökologisches Großprojekt, genannt wird. Er beschert der Region eine Brühe, bei deren Anblick und Geruch man von Wasser kaum sprechen mag.

Verunreinigungen auf Fläche von 30 Quadratkilometern

Der Grundwasserexperte Prof. Holger Weiß vom Helmholtz-Zentrum öffnet ein Schraubglas mit einer braunen Flüssigkeit, die streng nach Phenol riecht. „Es ist offensichtlich, dass Grundwasser so nicht aussehen und so nicht riechen sollte“, sagt der Geologe und weist auf eine Karte. Die Giftmülldeponie Antonie ist verschwindend klein, wie die Spitze eines Eisberges.

Der verschmutzte Untergrund darunter um ein Vielfaches größer. Die Verunreinigungen haben sich auf einer Fläche von 30 Quadratkilometern ausgebreitet und reichen bis zu 70 Meter tief. „200 Millionen Kubikmeter Grundwasser sind belastet, also zwei, drei volle Talsperren“, sagt der Gundwasserexperte.

Der Chemiestandort Bitterfeld galt zu DDR-Zeiten als schmutzigste Stadt Europas. Gerhard Zeder, in dessen Nachbarschaft früher die Brikettfabrik und das Braunkohlekraftwerk standen, hat das erste Mal in den 1970er Jahren Flugasche von seinem Grundstück abtransportieren lassen. 70 Zentimeter hoch lag die Asche und deckte damals die Kellerfenster zur Hälfte zu. 20 Jahre später trug er wieder 20 Zentimeter Asche ab.

Giftmüll ist eine gefährliche und oft auch heimtückische Hinterlassenschaft, die viele Menschen besorgt und die auch nach Jahrzehnten häufig noch für große Probleme sorgt. Das betrifft alte Kriegsmunition auf dem Meeresboden ebenso wie das Erbe der Chemieindustrie in Ost und West oder Geschäfte, die mit Müll immer wieder gemacht werden.

Die Mitteldeutsche Zeitung und der Deutschlandfunk präsentieren ab 8. April 2019 zu dem Thema unter dem Titel „Giftmüll auf der Spur“ eine Serie mit ausgewählten Beiträgen.

Weitere Folgen in Mitteldeutscher Zeitung und Deutschlandfunk

Die Gefahr heute ist nicht sichtbar. Dass sie im Grundwasser steckt, ist selbst manch Einheimischen kaum bewusst, obwohl niemand seinen Garten mit Brunnenwasser gießen darf und das Trinkwasser seit Jahrzehnten per Fernleitung kommt. Den Bürgern wurde nie reiner Wein eingeschenkt, klagt Gerhard Zeder aus der Siedlung Annahof/Bergmannshof. Man hätte den Leuten erzählt, dass all die Maßnahmen, wie die 23 Meter tiefe Dichtwand um die Siedlung herum, die Anwohner vor dem Grundwasser schützen sollen. „Aber sie sagten nicht, dass das wegen der Chemie geschah, dass wir total vergiftetes Grundwasser haben.“

Hochgradig krebserregendes Vinylchlorid steigt auf

Wie schon die Siedlung soll auch Greppin bis 2021 eine Dichtwand bekommen. Für die dortige Grundschule ist das zu spät, sie wurde vor 20 Jahren geschlossen, als das Wasser in die Keller stieg und giftige Dämpfe ins Gebäude schickte. Es handelte sich um hochgradig krebserregendes Vinylchlorid. Bis heute sickern Gifte aus den ehemaligen Braunkohlegruben Antonie und Greppin unablässig weiter ins Grundwasser. Keine der alten, oft noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb genommenen Deponien hat einen abgedichteten Boden.

In der Schweiz müssen die Chemiekonzerne solche Gruben ausbaggern und die toxischen Abfälle in Sondermüllverbrennungsanlagen bringen. Anders in Bitterfeld-Wolfen. Nach dem Abriss der alten Produktionsstätten wurde zwar oft auch das Erdreich entfernt und mit ihm Quecksilber, Chlorbenzole, DDT und HCH. Doch an die größten Quellen der Verschmutzung, die Deponien, wagt sich bis heute keiner ran, obwohl dort die Gifte in riesigen Mengen liegen.

Altlasten-Experte plädiert für das Ausbaggern der Deponie

Die landeseigene Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungs GmbH wäre zuständig. Geschäftsführer Harald Rötschke erklärt, was sie abschreckt. „Wenn sie alles wegnehmen wollen, müssten sie das ganze Gebiet auskoffern, acht Quadratkilometer, 40 Meter tief. Unmöglich.“

Der Schweizer Geograf und Altlasten-Experte Martin Forter plädiert dennoch für das Ausbaggern der Deponie, denn nur so könnte man die Quelle beseitigen. „Erst dann ist eine Grundwassersanierung sinnvoll. Vorher nicht, weil immer weiter Schadstoffe aus der Deponie nachlaufen.“

Die Situation würde sich auf jeden Fall verbessern, auch wenn es nicht in kürzester Zeit die absolute Sauberkeit gäbe. Doch man hätte langfristig eine Chance, das Grundwasser wirklich zu reinigen. Zusammen mit Umweltverbänden und Kommunen hat Martin Forter in und um Basel bewirkt, dass Firmen wie BASF, Novartis oder Roche alte Giftmüll-Deponien beseitigen mussten.

Keine vollständige Analyse der Altlasten

Was in der größten Bitterfelder Deponie Antonie entsorgt wurde, hat niemand vollständig analysiert. Trotzdem behaupteten die Sanierungsgesellschaft und deren Aufsichtsbehörde, die Landesanstalt für Altlastenfreistellung, auf die Nachfrage, dass alle Stoffe bekannt seien. Eine erste Anfrage, dann die Liste der Stoffe zur Verfügung zu stellen, wird abgelehnt. Nach erneuter Anfrage lenkt die Behörde schließlich ein. Eine vollständige Liste der Abfälle existiere nicht, hieß es, man könne sich aber vor Ort an der Giftmülldeponie Antonie treffen.

Für die Landesanstalt für Altlastenfreistellung erscheint deren Chef Jürgen Stadelmann, der erklärt, dass derzeit getan werde, was machbar und finanzierbar sei. Das Ausbaggern der toxischen Abfälle aus der Grube Antonie gehört nicht dazu. In einem Forschungsprojekt Anfang der 1990er Jahre sei festgestellt worden, dass die Beseitigung der Deponie Antonie über eine Milliarde DM kosten würde. „Sachsen-Anhalt hat über einen Generalvertrag mit dem Bund insgesamt für alle Altlasten eine Milliarde Euro erhalten. Jetzt können Sie sich die Verhältnismäßigkeit leicht ausrechnen: Das ist unmöglich.“

Verschmutztes Grundwasser bräuchte hunderte Durchläufe

Derzeit wird das verschmutzte Grundwasser von der Bevölkerung und der Mulde ferngehalten. Von den 200 Millionen Kubikmetern verschmutzten Grundwassers werden zwei Millionen pro Jahr hochgepumpt und gereinigt. Doch sauber ist das Wasser durch die einmalige Behandlung längst nicht, dazu bräuchte es hunderte Durchläufe, sagt Holger Weiß vom Helmholtz-Zentrum.

100 Tonnen toxische Stoffe werden pro Jahr aus dem Grundwasser herausgefiltert und entsorgt, doch drei Millionen Tonnen Giftmüll lagern noch allein in der Deponie Antonie. Daher plädiert der Schweizer Altlastenexperte Forter dringend für ein Umdenken. „Man hat lange in Deutschland und in der Schweiz gemeint, man könnte solche Deponien langfristig kontrollieren.

Das ist unendlich teuer, aber löst das Problem nie.“ Die bisherige Schadensbegrenzung kostet 15 Millionen Euro pro Jahr. Doch 200 Millionen Kubikmeter giftiges Grundwasser warten 30 Jahre nach dem Ende der DDR noch immer auf Sanierung.

Den vollständigen Beitrag hören Sie am 8. April um 18.40 Uhr im Deutschlandfunk. Alle Beiträge können auch Sie nachhören und -lesen: www.deutschlandfunk.de/giftmuell

Fred Walkow hat früher in der Forschung der Filmfabrik gearbeitet und war anschließend Umweltdezernent des Landkreises.
Fred Walkow hat früher in der Forschung der Filmfabrik gearbeitet und war anschließend Umweltdezernent des Landkreises.
André Kehrer