Giftig, gesetzlos, gefährlich
Wolfen/MZ. - In den Stasi-Berichten über das Chemiekombinat Bitterfeld hat der Leiter des Umweltamtes des Kreises, der 15 Jahre lang als Chemiker in der Filmfabrik gearbeitet hat, erstaunlich präzise Darstellungen der Zustände gefunden.
"Das waren keine Märchenerzähler wie die von der Partei", stellt Walkow fest. "Faktenreich und ohne Schaum" sei vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) dokumentiert worden, wie es um die Anlagen und Gebäude bestellt war, wie auf Kosten von Leben und Gesundheit ungezählter Menschen auf Teufel komm raus produziert worden ist. Was zu diesem Thema in der Stasi-Unterlagenbehörde in Halle zu finden ist, darüber sprach Fred Walkow unlängst im Industrie- und Filmmuseum.
Der mit Ralf Trabitzsch vom Zentrum für Umweltforschung erarbeitete Vortrag über die Arbeitsbedingungen in der chemischen Industrie der DDR im Spiegel der Stasi-Akten geht unter anderem auf einen Bericht des MfS aus dem Jahr 1987 mit dem Vermerk "Streng geheim!" ein, auf dessen Verteiler Namen wie Honecker, Stoph, Mittag und Schürer stehen.
Der Bericht über das Bitterfelder Chemiekombinat ist niederschmetternd: Auf jeder Seite geht es um überalterte und stark verschlissene Anlagen und schwere Bauschäden und davon ausgehende Gefahren. So könne eindringendes Regenwasser Kurzschlüsse verursachen, die zum Stillstand der Produktion führen. "Bei Windgeschwindigkeiten über 55 km / h müssen 22 Gebäude aus Sicherheitsgründen von den Werktätigen verlassen werden", wird festgestellt. Der technische Zustand des Chlorleitungsnetzes wird als "erheblich verschlissen eingestuft", obwohl es an allen Betriebsteilen und an Wohngebieten stark giftige Chlorverbindungen vorbeiführt, die in hohen Konzentrationen "sofortige tödliche Wirkungen nach sich ziehen".
Für Bitterfeld und Wolfen gelte die Emissionsstufen "überlastet" beziehungsweise "stark überlastet". Und: "Etwa die Hälfte (cirka 9 200 von 18 550) der im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat beschäftigten Werktätigen ist gesundheitlichen Schädigungen ausgesetzt." 4 000 Beschäftigte sind unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen an Anlagen tätig, die bereits im gesetzlosen Zustand weiterbetrieben werden. So alarmierend die Fakten - die Fonds für die "Erneuerung, Modernisierung und Rekonstruktion" wurden nicht erhöht.
Der Schock über die 42 Toten und über 200 Verletzten beim Explosionsunglück am 11. Juli 1968 wirkte längst nicht mehr. Die Generaldirektoren seien immer nur Bittsteller in Berlin gewesen, sagt Walkow und nennt die hundertprozentige Gewinnabführung "zentralistische Enteignung" des Chemiekombinates, die es so nirgendwo in der DDR gegeben habe. Die Mittel sind in andere Bereiche wie Mikroelektronik und Petrolchemie geflossen. Dafür habe die Region nach 1989 erneut bluten müssen - mit dem Verlust von 45 Prozent der Arbeitsplätze, so Walkow.
Nach dem Vortrag hatten die Zuhörer Gelegenheit zum Dialog. Ein junger Mann wollte wissen, weshalb die Menschen überhaupt unter solchen Bedingungen gearbeitet haben. Man sei bereit gewesen, mehr zu akzeptieren als Außenstehende, so Walkow. "Und es gibt Leute, die sich die Gesundheit abkaufen lassen." So sei es kein Zufall gewesen, dass Generaldirektor Heinz Schwarz erst an 137. Stelle der Gehaltsliste zu finden war. Mit den Motiven der Menschen, kaum vorstellbare Arbeitsbedingungen hinzunehmen, hat sich auch der Umweltaktivist Hans Zimmermann beschäftigt. Er nannte einiges von dem, was letztlich zählte: die Neubauwohnung in Wolfen-Nord, das Portemonnaie, Baumaterial, Waschmaschine und die Datsche in der Dübener Heide.