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Waldau Waldau: Alternatives Leben ohne freie Liebe

Von Torsten Adam 24.08.2019, 12:55
Hausherr Willem in seinem Eldorado. 
Hausherr Willem in seinem Eldorado.  Engelbert Pülicher

Bernburg - Erstmals seit 20 Jahren öffnet ein geschichtsträchtiges Bernburger Haus wieder seine Pforten. Zum Tag des offenen Denkmals am Sonntag, 8. September, können Interessenten von 11 bis 15 Uhr einen Einblick in das 1850 als Heim für verwahrloste Kinder erbaute Friederikenhaus bekommen. Die meisten Einheimischen kennen es aus DDR-Zeiten noch als Station Junge Naturforscher und Techniker sowie als Internat des Lehrerbildungsinstituts.

Hinter der knarzenden Metalltür zum Gehöft an der Staßfurter Straße öffnet sich eine neue Welt. Auf dem 14.000 Quadratmeter großen Grundstück am nördlichen Stadtrand leben acht Menschen zwischen 30 und 67 Jahren zusammen.

„Wir pflegen zwar alle einen alternativen Lebensstil, sind aber keine Kommune mit freier Liebe und so“, erzählt die 46-jährige Antje lachend. Die Frau aus Hannover ist das jüngste Mitglied der Wohngemeinschaft. „Ich war mal eine emanzipierte Frau, doch das machte mich nicht glücklich“, sagt die ehemalige Studentin der Literaturwissenschaften.

„Wir leben hier nach dem Motto ,Alles geht, nichts muss’, tolerieren uns gegenseitig" 

Von ihrem neuen Zuhause ist die Niedersächsin begeistert: „Wir leben hier nach dem Motto ,Alles geht, nichts muss’, tolerieren uns gegenseitig. Ich fühle mich hier endlich angekommen.“ Das weitläufige Grundstück biete schier unbegrenzte Möglichkeiten.

Ein Pool, der von Wasserpflanzen gereinigt wird, ist gerade angelegt worden. Sogar eine bescheidene Sauna gibt’s im Grünen. Kräutergarten, Obstplantage, Streichelzoo - an Ideen mangelt es ihr und Freund Sebastian nicht.

Irgendwann mal einen Hofladen eröffnen, ist ein großer Traum der beiden, für die zunächst die Familienplanung im Vordergrund steht. Kennen gelernt hatten sie sich auf der Internetseite Familyship - ursprünglich mit dem Ziel, dort einen freundschaftlichen Partner zu finden, um gemeinsam Kinder großzuziehen. Ungeplant hat Amor dann aber seine Liebespfeile auf beide abgeschossen.

„Ich kann hier nach meinen Vorstellungen leben“, berichtet Sebastian

Seine Wahlheimat ist auch Sebastian noch nicht ganz vertraut. Er zog vor drei Monaten aus dem Breisgau nach Bernburg. „Menschen, mit denen ich spreche, staunen über diesen Umzug. Aber ich kann hier nach meinen Vorstellungen leben, finde die Gegend sehr schön und die Leute nett“, erzählt der 38-Jährige, der von Gelegenheitsjobs lebt. „Ich mag es, mir meine Zeit selbst einteilen zu können.“

Das war auch einer der Gründe, warum Willem das leerstehende Gehöft vor elf Jahren aus privater Hand gekauft hatte. „Ich suchte ein großes preisgünstiges Grundstück, das daheim nicht zu bekommen war“, erinnert sich der 55-Jährige. Mit Frau, Kindern und Hausstand zog er damals um - in eine Ruine. „Hier war kein einziges Fenster mehr drin. Das Grundstück war ein Urwald“, sagt er.

Miete wird nicht verlangt, aber ein Beitrag für Strom und Wasser

Seine Frau konnte das nicht ertragen, sie zog mit den Kindern zurück in die Niederlande. Willem blieb und stoppte erst einmal den Verfall. Alsbald holte sich der Mann, der halbtags als Hausmeister in Bernburg arbeitet, die ersten Mitbewohner aufs Grundstück, die unterschiedlichsten Berufen nachgehen oder Rente genießen.

Weitere Menschen, die hier leben wollen, seien willkommen. Eine Miete werde nicht verlangt, aber ein Beitrag für Nebenkosten wie Strom und Wasser erhoben. Dafür müssen sich Neuankömmlinge ihr Quartier selbst herrichten, handwerkliche Begabung wäre von Vorteil.

Denn insbesondere am denkmalgeschützten Haupthaus hat der Zahn der Zeit genagt. Im Erdgeschoss haben zwei ältere Damen aus Hamburg das Wagnis in Angriff genommen, aus ihrer Küche ist ein Schmuckstück geworden.

Auf dem Grundstück leben Hühner, Schafe, Hunde und Katzen

Neben acht Menschen haben hier auch Hühner, Schafe, Hunde, Katzen und Wellensittiche ein Zuhause - ganz in Tradition der Station Junge Naturforscher und Techniker, die zu DDR-Zeiten 40 Tierarten beherbergte. Darunter auch einen acht Meter langen Riesenpython, den die meisten Kinder zu ihrem Lieblingstier erkoren hatten.

1994 beschloss der Kreistag das Aus des schulbiologischen Zentrums. Letztmals war das Grundstück 1999 zugänglich, als die Friederiken-Stiftung hier eine Benefizparty zugunsten Sozialschwacher veranstaltete. Der Tag des offenen Denkmals in zwei Wochen soll keine Eintagsfliege bleiben. Im Herbst sollen Mittelalterfans zum Bogenschießen eingeladen werden, ein Flohmarkt ist in Planung.

Sebastian arbeitet derzeit an einer Internetseite, die die fast 170-jährige Geschichte des Hauses dokumentiert. „Wir sind auf der Suche nach Zeitzeugen, die uns ihre persönlichen Erinnerungen erzählen und uns eventuell sogar alte Bilder zur Verfügung stellen können“, ruft er dazu auf, sich bei ihm unter Telefon 0157/56 11 40 78 zu melden.

(mz)

Sebastian forscht zur Geschichte des denkmalgeschützten Friederikenhauses. Der 38-Jährige ist vor drei Monaten aus dem Breisgau hierher gezogen.
Sebastian forscht zur Geschichte des denkmalgeschützten Friederikenhauses. Der 38-Jährige ist vor drei Monaten aus dem Breisgau hierher gezogen.
Pülicher
Antje ist gerade in die von Willem hergerichtete Übergangswohnung eingezogen. Später will sich die 46-Jährige ein eigenes Domizil herrichten.
Antje ist gerade in die von Willem hergerichtete Übergangswohnung eingezogen. Später will sich die 46-Jährige ein eigenes Domizil herrichten.
Pülicher
Zwei ältere Damen haben sich ihre Küche gerade neu eingerichtet.
Zwei ältere Damen haben sich ihre Küche gerade neu eingerichtet.
Pülicher