Couchsurfing Couchsurfing: Die andere Art der Schlafplatzsuche in Bernburg
bernburg/MZ - Vom Bahnhof in Bernburg bis zur Friedrichstraße brauche ich nur fünf Minuten. „Wir sind hinten im Garten, einfach durchgehen“, stand in der Nachricht. Mein Ziel ist ein großes Mehrfamilienhaus, dessen Holztür mit einem schwarzen Steinblock offen gehalten wird. Im Hausflur hängen Fotos von Gartenfesten. Die nächste Holztür führt zu einem gepflasterten Hof. Noch immer sehe ich niemanden. Als ich mich weiter umsehe, fällt mir ein kleiner Weg ins Auge, der in den hinteren Teil des Gartens führt. Der Pfad schlängelt sich an Pflaumenbäumen und Johannisbeersträuchern vorbei. Und dann, mitten im dichten Grün, ist da endlich Micha, mein Couchsurfing-Gastgeber. Er ist 24 Jahre alt, studiert Naturschutz und Landschaftsplanung, fährt gern Fahrrad, verrät sein Profil im Internet.
38 Mitglieder in Bernburg
In Bernburg sind insgesamt 38 Menschen bei dem Online-Netzwerk Couchsurfing registriert. Micha Reimer ist einer von ihnen. Er ist ein „Host“, also Gastgeber, der als Schlafplatz eine ausklappbare Couch in der Küche seiner Wohngemeinschaft anbietet. Darum geht es beim Couchsurfing: anderen kostenlos einen Schlafplatz anzubieten oder selbst auf Reisen ein bequemes Sofa zum Übernachten zu finden.
Couchsurfing habe ich bereits in Irland, Frankreich, Deutschland und in der Türkei ausprobiert. Meine Erfahrungen waren alle sehr bereichernd. Trotzdem bleibt es immer wieder spannend, bei wem man sich dieses Mal einquartiert hat. In Bernburg steht jetzt der 1,93 Meter große Student leibhaftig vor mir und begrüßt mich mit einem breiten Lächeln. Micha hat blondes Haar, trägt eine kurze Jeanshose und läuft barfuß durch den verwinkelten Garten. Hinter ihm schaukelt eine junge Frau in der Hängematte. Das ist Amy, seine englische Freundin. Neben ihr hämmert ein Specht gegen einen Baum.
„Man trifft Menschen, mit denen man sonst nie in Kontakt kommt“, antwortet Micha auf die Frage, warum er bei Couchsurfing aktiv ist. Die letzte Person, die er über das Netzwerk aufgenommen hatte, war eine Bewerberin für die Polizei, die er sonst wahrscheinlich nie kennen gelernt hätte. Anfragen bekommt der Student auch, wenn das Mittelalterspektakel oder der Tag der offenen Hochschultür ansteht. Aber vor allem seien es Reisende auf der Durchfahrt, die bei ihm einkehren.
„Man lernt so viel Neues kennen – das ist für beide Seiten eine Win-win-Situation“, erklärt Micha. Die Besucher entdecken einen Ort nicht mit dem Reiseführer, sondern durch die Menschen, die dort leben. Und der Gastgeber kann Geschichten aus aller Welt auf seinem Sofa hören.
Im alten Kulturgarten zeigt Micha, was er selbst angepflanzt hat. 50 Zentimeter über dem Boden wachsen Rosenkohl, Haferwurzel und Kartoffelpflanzen aus einem Hügelbeet.
Der Student stammt aus Kropp, einer Kleinstadt, die nur 40 Kilometer von der dänischen Grenze entfernt liegt. Seit eineinhalb Jahren wohnt er in Bernburg. Er gibt zu, dass er sich zunächst schon fragte, wo der denn gelandet sei, als er hierher zog. Jetzt könne er sich das Studentenleben woanders nicht schöner vorstellen. „Die Studenten machen das Leben hier lebenswert.“ Sein Studiengang sei klein, aber der Austausch untereinander dafür umso größer.
Seit 2009 ist Micha ein Mitglied bei Couchsurfing. Als er nach Mainz zu einem Vorstellungsgespräch fuhr, wurde er selbst zum ersten Mal zum „Couchsurfer“, also jemandem, der nach einer einfachen Übernachtungsmöglichkeit sucht.
Für ihn ist Couchsurfing eine Vertrauensgemeinschaft, die darauf beruht, sich gegenseitig zu helfen. Seinen Gästen zeigt er die Innenstadt, das Schloss, die Bären und seine Lieblingskneipe. „Das Hotel Wien ist hier die beste Adresse zum Weggehen“, sagt der 24-Jährige. Oft habe er auch Bands bei sich übernachten lassen, die vorher dort aufgetreten waren.
Nach dem Gartenspaziergang befeuert Micha den Grill auf dem Hof. Amy Kirkbride, die seit sechs Monaten in Deutschland lebt, hat vegetarische Burger aus frittiertem Gemüse zubereitet. Für den Salat pflückte sie Lindenblätter und Löwenzahnblüten aus dem Garten. „Das Haus und der Garten hier sind wie ein utopischer Ort mitten in Bernburg, einer Stadt der Kontraste“, sagt Amy, die in Liverpool geboren wurde. Die 25-Jährige hat dort Tanz studiert und möchte nun eine Weiterbildung zur Bewegungstherapeutin in Berlin anschließen. Amy und Micha sind auch bei Internetseiten wie „Workaway“, „WWOOF“ und „Help Exchange“ angemeldet. Über all diese Netzwerke kann man ebenfalls auf der ganzen Welt kostenlos Schlafplätze und sogar Verpflegung bekommen, wenn man im Gegenzug ein paar freiwillige Arbeitsstunden dafür leistet. Oftmals sind es Bauernhöfe oder Jugendherbergen, die Mithelfer suchen. Im Gegensatz zu Couchsurfing kann man so länger an einem Ort bleiben und in einen intensiveren Austausch mit den Gastgebern treten.
Radtour durch halb Europa
Nach seiner Ausbildung zum biologisch-technischen Assistenten fuhr Micha mit dem Fahrrad von Deutschland bis nach Belgien. Auf dem Weg hat er immer wieder angehalten und an verschiedenen Orten Freiwilligenarbeit geleistet. „Es ist unglaublich, wie viele liebe Menschen einem helfen wollen, und denen man dann auch wieder hilft“, sagt er lächelnd. Ein paar Monate später flog er nach Málaga und radelte, wieder mit vielen Zwischenstopps, bis nach Deutschland zurück.
Diese Erfahrungen haben ihm geholfen herauszufinden, was er in seinem Leben machen möchte. „Ich muss den ganzen Tag draußen sein, um richtig glücklich zu sein“, sagt der 24-Jährige. Nach seinem Studium möchte er ein ökologisches Bildungszentrum gründen. Das erste Vorbereitungstreffen mit zwölf Gleichgesinnten gab es bereits. Außerdem ist er Mitglied in der studentischen Organisation Wurzelwerk, die regelmäßig Veranstaltungen über Natur und Umwelt in Bernburg anbietet.
Bis es dunkel wird, sitzen wir auf den Gartenbänken und reden. Im Hintergrund erhellen die Scheinwerfer der Solvay-Werke den Abendhimmel. Weißer Rauch steigt empor, das Hämmern der Maschinen durchdringt die Stille. Nie hätte ich vermutet, dass sich neben dem Industriepark und hintern der roten Backsteinmauer Menschen wie Micha und Amy auf so einer grünen Insel verbergen könnten. Ob die Couch oben in der Wohnung tatsächlich bequem zum Schlafen ist, wird zur Nebensache.