Zeitgeschichte aus Salzlandkreis Zeitgeschichte aus Salzlandkreis: Rudolf Bothe flüchtete zu Fuß über Grenzen

Aschersleben - Wenn Rudolf Bothe an seine Gefangenschaft, seine Vertreibung und seinen Neubeginn in Cochstedt und Aschersleben denkt, fällt ihm immer wieder ein, wie verdammt hungrig er in all der Zeit war. Bothe ist einer von etwa drei Millionen Sudetendeutschen, die ihre Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten. In den Medien verfolgt der heute 85-Jährige auch, wie tausende von Flüchtlingen in Booten vor Bürgerkriegen in ihren Heimatländern fliehen. Doch zwischen Flucht, Vertreibung und Umsiedlung gibt es so einige Unterschiede, sagt er. Er kann mitfühlen, aber die Schicksale der Flüchtlinge heute ließen sich dennoch nicht mit den Umsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen, sagt er und erzählt seine Geschichte.
Zu Fuß über Dresden nach Hoyerswerda
Rudolf Bothe ist in Groß Grünau auf die Welt gekommen. Einem kleinen Ort im Kreis Deutsch Gabel in der heutigen Tschechischen Republik. Mit 15 Jahren wurde er im April 1945 zum Arbeitsdienst in der mährischen Bergstadt Iglau eingezogen. Mit dem Zug ging es aber direkt nach Karlsbad weiter, von dort zu Fuß über Dresden nach Hoyerswerda, wo Rudolf Bothe in einem Gefangenenlager der Russen landete. „Die Amerikaner und die Russen hatten das Gebiet noch nicht besetzt und deshalb ging es für mich kreuz und quer hin und her - ich wusste gar nicht so richtig, was los war“, erinnert er sich. Während Bothe in Hoyerswerda im Lager saß, musste seine Familie kurz darauf die Heimat verlassen - ohne zu wissen, wo die lange Reise enden wird. Der Vater war in englischer Gefangenschaft und die Tante blieb zurück. Sie wusste, wie eine bestimmte Maschine im Ort funktionierte; am Abend arbeitete sie als Hausmädchen im eigenen Haus bei den Tschechen. „Die hatten unser Grundstück mit allem Drum und Dran übernommen“, sagt Bothe.
Nach drei Monaten Gefangenschaft hielt er Entlassungspapiere nach Dresden in der Hand und war auf sich allein gestellt. „Ich scheine einen Schutzengel gehabt zu haben“, sagt Bothe, „denn das Schicksal meinte es gut mit mir.“ Am Bahnhof von Dresden traf er Bekannte aus Groß Grünau. Sie warteten mit einem kleinen Koffer in der Hand auf die Weiterreise am Bahnsteig und brachten den jungen, ausgehungerten Mann auf den neuesten Stand. Sie berichteten von der Vertreibung und dass ein Teil seiner Familie unterwegs sei.
Polizist vermittelte Bleibe
Auf Umwegen gelangte Bothe mit dem Zug in das zertrümmerte Magdeburg. „Ich bestand nur noch aus Haut und Knochen und war auf der Suche nach etwas zu essen“, sagt er. Ein Polizist vermittelte ihm dort eine Bleibe bei einer Familie in Rothensee, wo er zwei Jahre blieb. Bothe arbeitete als Hilfsschlosser und fand über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes heraus, dass es seine Familie nach Cochstedt verschlagen hatte. Mutter, Großeltern und die Schwester starteten zu Fuß in Groß Grünau mit einem Handwagen, wobei sie wenige Habseligkeiten mitnehmen durften. Von Böhmisch-Leipa ging es mal zu Fuß und mal mit dem Zug von Riesa nach Quedlinburg, von Aschersleben nach Cochstedt. Die anstrengende Reise dauerte mehr als zwei Wochen und brennt sich ein Leben lang ins Gedächtnis ein.
Im Februar 1946 kehrte der Vater aus der Gefangenschaft zu seiner Familie nach Cochstedt zurück, Bothe folgte ein Jahr später mit der Facharbeiterprüfung in der Tasche aus Rothensee.
Erst 25 Jahre nach der Umsiedlung konnte die Familie das erste Mal zurück in die alte Heimat. „Man brauchte bis 1972 eine Einladung von Verwandten, die man besuchen wollte. Wir hatten aber keine“, erinnert sich Bothe, denn auch seine Tante kam irgendwann nach. „Ich kann heute noch genau sagen, über welche Wurzeln und Steine ich in meiner Kindheit in Groß Grünau gestolpert bin, doch meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln fehlt der Bezug dazu.“ Nur seine mittlerweile verstorbene Frau Maria wusste, was ihr Mann durchgemacht hat. Sie kam aus Schlesien und flüchtete vor den Polen. „Ihr Schicksal ist noch schlimmer als meins“, findet Bothe. Neben den Sudetendeutschen, die aus Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien nach Deutschland und Österreich kamen, waren insgesamt zwischen 1944/45 bis 1950 mehr als zwölf Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen. (mz)
Haben auch Sie Geschichten zur Umsiedlung? Dann erzählen Sie uns von Ihrem Schicksal. Wir sind gespannt. Schreiben können Sie an: Mitteldeutsche Zeitung, Lokalredaktion Aschersleben, Düsteres Tor 11, 06449 Aschersleben.
