1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Aschersleben
  6. >
  7. Wohngebiet vor dem Exodus

Wohngebiet vor dem Exodus

Von Kerstin Beier 19.09.2006, 16:30

Aschersleben/MZ. - Eine bittere Pille hatten die Bewohner der Mehrfamilienhäuser an der Peripherie der Stadt zu schlucken: Spätestens 2015 werden die meisten der Wohnblöcke, die der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft (AGW) und der Wohnungsgenossenschaft "Einigkeit" in diesem Areal gehören, abgerissen sein. In welchem Tempo und in welcher Reihenfolge der Kahlschlag erfolgen soll, wagt heute niemand zu sagen. Aber: "Das Wohngebiet ist nicht zu halten".

Diese Einschätzung trifft der Architekt Satish Khurana, der die Neubaublöcke an der Welzstraße noch kurz vor der Wende geplant hatte und heute helfen muss, sie abzureißen. Inzwischen ist die Zahl der Einwohner dramatisch gesunken - von knapp 33 000 vor der Wende auf unter 25 000. Pro Jahr gehen der Stadt rund 500 Einwohner verloren. Die Folge sind leer stehende Wohnungen in immer größerer Zahl. "Wir haben wenig Bürger und viel Infrastruktur, das kann sich auf Dauer keine Stadt und auch kein Wohnungsunternehmen leisten", versuchte Bauamtsleiterin Ria Uhlig den drastischen Schritt zu erklären und macht deutlich, dass die Bevölkerung schneller abnimmt als jemals prognostiziert.

Die Verantwortlichen der Stadtverwaltung und der beiden Wohnungsgesellschaften hatten an diesem Abend ihre liebe Not, ihre Argumente an die Zuhörer zu bringen, die manche Äußerung mit lautem Schimpfen und höhnischem Gelächter quittierten. Denn die Anwohner haben ihre eigene Sicht auf die Dinge. Ein Mann verwies darauf, dass es 2001 noch hieß, das Wohngebiet werde nicht vernachlässigt. Ein Teil der Blöcke sei vor wenigen Jahren noch saniert worden.

Tatsächlich, so räumte Oberbürgermeister Andreas Michelmann (Widab) ein, habe man zu dieser Zeit noch versucht, den Verfall des Wohngebietes aufzuhalten: mit einer Veränderung des Schuleinzugsgebietes, mit Investitionen in der Grundschule, mit einer Senkung der Grundmiete und indem verschiedene Versuche unternommen wurden, einen Betreiber für den einzigen Laden zu finden. Die Schülerzahlen sind trotzdem zurückgegangen, der Ladenbetreiber musste irgendwann das Handtuch werfen und der Leerstand stieg weiter an. "Wir haben es hier nicht geschafft, die Entwicklung aufzuhalten. Und die ist schneller vorangeschritten, als wir es ahnen konnten", so Michelmann.

Doch die Leute, die hier zum Teil seit 40 Jahren wohnen, wollen nicht weg. Sie haben, was sie brauchen: Bezahlbare, gute Wohnungen, Grün vor der Tür, Stellplatz, Garten und Garage, sagen sie. In

der Juststraße 6b haben die Bewohner am Montag noch bis Mitternacht diskutierend im Treppenhaus gesessen. Unter ihnen Silvia Kappel, die schon dreimal innerhalb des Wohngebietes umgezogen ist. Erhard Stinner ist

erst im vergangenen Sommer aus einem inzwischen abgerissenen Block in der Sorge- in die Juststraße 6b gezogen - diese Wohnung stehe vorläufig nicht zum Abriss an, hieß es damals von Seiten der AGW. Daraufhin habe die Familie 6000 Euro und viel Kraft in einen neuen Anfang investiert. Selbst im März, nachdem es Spekulationen um einen Abriss gab, hatte sich die AGW bedeckt gehalten. "Ich ziehe hier nicht aus", meint trotzig seine Frau Brigitte, und ihr Mann will sich an den Rechnungshof wenden um prüfen zu lassen, "ob es rechtens ist, Häuser mit Fördermitteln zu sanieren und dann mit Fördermitteln abzureißen."