Unterwegs auf dem Jakobsweg Unterwegs auf dem Jakobsweg: Klaus Dieter Unrau ist dann mal zurück

frose - „Nach 797 Kilometern habe ich Santiago erreicht. Man braucht: zwei Beine, fünf Blasen, 125 Gramm Vaseline, fünf Meter Leukoplast, zwei Paar Socken und 37 Tage - und schon ist man am Ziel“, schreibt Klaus Dieter Unrau aus dem spanischen Santiago de Compostela. Zu Fuß hatte der Froser zuvor vom französischen St.-Jean-Pied-de-Port aus die Pyrenäen bezwungen, Wind, Regen und Schnee getrotzt, zahlreiche interessante Bekanntschaften gemacht. Er war der hochmittelalterlichen Hauptverkehrsachse Nordspaniens gefolgt, bis hin zum Grab des Apostels Jakobus - und noch ein Stück weiter: nach Finisterre, ans Ende der Welt.
Vorbild Hape Kerkeling
Warum der 62-Jährige den Jakobsweg meistern, sich diesen Strapazen aussetzen wollte? „Da gab es viele Anstöße, die in der Summe dazu geführt haben“, überlegt Unrau, der inzwischen wieder in seinem Heimatort Frose angekommen ist. Er spricht von seinem kirchlichen Hintergrund und seiner Leidenschaft fürs Wandern. Das Zünglein an der Waage war aber das Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“, das Unrau geschenkt bekam. In dem beschreibt Kerkeling seine Wanderung auf dem Pilgerweg. „Das zu lesen, hatte sehr viel Spaß gemacht und ich dachte: Warum er und nicht du?“
Als Konsequenz daraus startete Klaus Dieter Unrau einen Testlauf: einmal quer durch England, 120 Kilometer den Hadrians Wall entlang, von einer Küste zur anderen. Dann erwanderte er den Jakobsweg in Sachsen-Anhalt - „was schwer war, weil man hier nicht übernachten kann“ - und in Bayern, wo er in einer kleinen Kirche auf Hape Kerkeling höchstpersönlich traf und mit ihm ins Gespräch kam. „Und sein letzter Satz war: Nicht darüber nachdenken, gehen!“ Also bereitete sich Unrau, der Diabetiker ist, intensiv auf dieses Projekt vor: Mit Hilfe einer Ärztin reduzierte er innerhalb von zwei Jahren sein Gewicht, stellte die Ernährung komplett um. Regelmäßig war er im Harz unterwegs. Auch seine Familie stand mit der Begründung „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ hinter ihm. Und so machte sich der 62-Jährige am 18. März mit 13 Kilo Gepäck auf den Weg nach Frankreich, wo er im Pilgerbüro von St.-Jean-Pied-de-Port seinen Pilgerausweis, eine Jakobsmuschel als Erkennungszeichen sowie als Besteck, und viele Ermahnungen mitbekam.
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Die erste Etappe seiner Wanderung, der Anstieg in den noch verschneiten Pyrenäen, war schwer. Der Tag war neblig und bibbrige fünf Grad kalt. „Und ich dachte mir, wenn das der einfache Weg ist, wie ist dann der anstrengende Teil?“ Nach sieben Kilometern brauchte der Froser einen Zwischenstopp. An der dort errichteten Pilgerherberge begegnete er einem schlaksigen, eingemummelten, jungen Mann, der sich, als er die Mütze abnahm, allerdings als gutaussehende Miss Chicago und Fachbuchautorin für Psychoanalyse entpuppte. Die erste interessante Bekanntschaft von vielen, mit denen er halbe Nächte durcherzählte. So traf er Pilger aus aller Herren Länder. Darunter Australien, Korea, Japan und Amerika. Eine an der Züricher Oper arbeitende Kindergärtnerin, einen Sternekoch mit Edelrestaurant, einen in Mailand lebenden Deutschen, der für die Uno arbeitete und mehrere Sprachen perfekt beherrschte. Und eine kleine Japanerin, die er am Ziel des Pilgerweges freudestrahlend wiedertraf, weil sie ihm gleich am Anfang des Weges, als er sich ohne Wasser in einem Schneegestöber verirrt hatte, gemeinsam mit zwei Koreanern förmlich das Leben rettete. Nicht nur, dass sie ihn, der inzwischen ein Loch im Zeh hatte, auf den rechten Weg zurückbrachten und zum Durchhalten animierten. „Sie teilten auch ihr Essen, ihr Wasser und dunkle Schokolade mit Meersalz mit mir, da ging ein richtiger Ruck durch meinen Körper“, weiß Unrau noch genau.
Schweigen beim Wandern
„Das Interessante am Jakobsweg sind die Bekanntschaften und die Zeit, die man mit sich selbst verbringt“, nickt der 62-Jährige. Denn geredet wird nur abends in den Unterkünften, während des Wanderns wird geschwiegen, hängt man seinen eigenen Gedanken nach.
Immer übernachtete Unrau in Pilgerherbergen, doch die waren mal in kalten Klöstern, mal in Luxushotels, mal in einer alten Schmiede oder in verlassenen Bergdörfern untergebracht. Und an jeder Station gab es kleine bunte Stempel in seinem Pilgerausweis, als Nachweis, wann er wo gewesen ist. Er durchwanderte die zugeschneiten Berge, sogar die Wolken, später wärmere Olivenhaine („das öffnet die Seele“), Weinfelder oder Ebenen, die so platt wie ein Küchentisch waren. „Zeit und Entfernung spielen irgendwann keine Rolle mehr. Man merkt nicht mehr, dass man läuft, genießt die Landschaft, die Geräusche, die Gerüche...“
Unterwegs kaufte er sich ein paar neue Schuhe. „An diesem Tag bin ich das erste Mal 28 Kilometer gelaufen.“ Später sogar 42. Am Cruz de Ferro legte er einen aus Frose mitgebrachten Sorgenstein und damit seine Sorgen und Lasten ab. Als er mit seinen neuen Schuhen an einer Kirche vorbeizog, hörte er den Hahn im Inneren krähen. Ein Zeichen dafür, dass seine Pilgerschaft unter einem guten Stern steht. Am Ende des Weges, in Santiago de Compostela, erhielt er den Pilgersegen und zahlreiche Urkunden. Doch es ging noch ein Stück weiter: nach Finisterre, übersetzt: ans Ende der Welt, wo man sich nach einem alten Ritual den Pilgerstaub im Atlantik abwäscht und die Pilgersachen verbrennt. Doch seine Socken - am letzen Tag, dem 26. April, war er zehn Stunden im Dauerregen unterwegs - waren so tropfnass, dass sie einfach nicht brennen wollten. Das will er nun in Frose nachholen, wo er auch seine erlebten Abenteuer in einem Tagebuch niederschreibt. „Nur für mich und die Familie“, schmunzelt er und gesteht, dass ihm das beim Ankommen hilft.
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Denn das sei ihm nach dieser Reise überraschenderweise am schwersten gefallen. Da sei zum einen die Rückfahrt gewesen. 33 Stunden im Bus. „Das lange Sitzen, das war schon grenzwertig.“ In Köln strandete der Froser „dank“ Bahnstreik dann auf dem Bahnhof. „Da hier eine Messe war, gab es auch kein Hotelzimmer mehr, so dass ich auf dem Bahnsteig übernachten musste.“ Am nächsten Tag ging es dann weiter. Doch das letzte Stück der Etappe - von Nachterstedt nach Frose - ging er wieder zu Fuß. „Das soll das Ankommen ein bisschen leichter machen.“
Doch auch der Alltag in Frose ist nun extrem ungewohnt: „Man unterwirft sich über einen längeren Zeitraum einem völlig anderen Tagesablauf, den man derart verinnerlicht, ist jeden Tag über sieben bis zehn Stunden in Bewegung - und dann kommt man nach Hause. Da fehlt das Laufen und die Stille. Da muss man erst einmal auch innerlich ankommen“, begründet der Froser das und lacht: „Das Verrückte an den Büchern über den Jakobsweg ist, dass immer geschrieben wird, wie man losgeht und wie man wandert, aber nie, wie man wieder ankommt.“ Trotzdem will Unrau diese Zeit seines Lebens nicht mehr missen: „In Santiago anzukommen, ist nicht - wie Kerkeling meinte - der Pilgertod, sondern nur das Ende einer Pilgerschaft“, überlegt der Froser: „Pilgern heißt: in der Fremde sein. Und die beginnt ja schon hinter der eigenen Haustür.“ (mz)


