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Neubaugebiet «Blankenburger Straße» Neubaugebiet «Blankenburger Straße»: «Das ist kein schlechter Fleck»

27.10.2003, 17:23

Thale/MZ. - Die Bretter vor den Fensterhöhlen bieten nur im Parterre Schutz. Nur eine Etage höher jedoch hatten Steinwerfer freies Schussfeld. Nahezu alle Fenster im zweiten Stock des Sechsgeschossers sind zertrümmert. Auch im Eingang Nummer 7, rechts, ist das Küchenfenster demoliert.

Balcerowski: Da hatte mein Vater fein säuberlich ein Zäunchen vor gebastelt. Reine Handarbeit, kein Fertiges zum Kaufen. Das war ja damals unheimlich schick.

Kranert: Bei uns waren es Pseudo-Fensterkreuze aus Klebeband. Und gedrechselte Holzrollen für die Leitungen zu den Lampen, die quer durchs Zimmer gespannt waren. Wann warst Du eigentlich das erste Mal hier, damals?

Balcerowski: An das Datum kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ein Bild hat sich bei mir eingeprägt: Wir waren mit der Schule hier und mussten singen. Es war wohl die Einweihung für den ersten Block. Der damalige Bürgermeister, Dr. Hornburg, und etliche andere Leute haben geredet. Die Stimmung war sehr gut. Kein Wunder, bei der Aussicht auf eine schöne neue Wohnung. Anfangs war ja noch im "Schwange", ob das Neubaugebiet überhaupt kommt. Doch als dann jeden Abend die riesigen Tatra-Sattelschlepper bei uns vorbei fuhren, weil die wohl nicht voll beladen über die Forellenbrücke durften, da haben wir dauernd am Fenster gestand. Da war klar: Es geht los.

Kranert: Ich sehe noch große Gräben, Pumpen und Wassermassen vor mir, die aus der Baugrube gepumpt wurden. Das muss wohl im Herbst '85 gewesen sein. Da war überhaupt noch nicht klar, ob wir hier runter ziehen. Ein endloses Drama, ob man nun auf der Liste für eine Wohnung stand oder nicht. Die Namen der beiden Damen bei der Wohnungswirtschaft, die über Wohl und Wehe entschieden, habe ich bis heute nicht vergessen.

Balcerowski: Ich weiß gar nicht mehr, wie das bei uns lief. Wir wohnten ja in der Karl-Marx-Straße schon im Neubau bei der AWG. Gefreut habe ich mich trotzdem: Wir kriegten endlich zwei Kinderzimmer, ich musste mir keines mehr mit meiner Schwester teilen. Und auch sonst hatte sich der Wohnkomfort deutlich verbessert - warmes Wasser aus der Wand.

Kranert: Endlich eine Badewanne zum täglichen Gebrauch. Nicht nur die bei Oma im Keller am Wochenende. Genervt hat mich nur der Schlamm überall. Zur Schule ging ich ja noch "Auf den Höhen". Jeden Morgen mit Zellstoff in der Tasche, um die Stiefel halbwegs sauber zu kriegen. Schlammhausen eben. Das habe ich aber gerne in Kauf genommen - im Gegensatz zum geplanten Schulwechsel. Ich wollte partout nicht - trotz des deutlich kürzeren Weges. Genützt hat's nichts. Zwei Wochen vor Ferienende kam die Hiobsbotschaft.

Balcerowski: Mich hat das nicht gestört. Viele Freunde gingen ja mit und die Vorfreude auf die neuen Leute war auch groß. Die Schulzeit hier unten war eine ausgesprochen schöne Zeit: Junge, ideenreiche Lehrer mit Elan und keine vollgestopften Klassen. Das war außerordentlich angenehm.

Kranert: Das stimmt. Letztlich waren es dann die schönsten zwei Schuljahre. Lustig war ja auch, dass in den ersten Tagen kein Unterricht für die Jungen der beiden neunten Klassen - zehnte gab es noch nicht - statt fand. Mit Ausnahme von Bänken und Tischen und einem Vorzeigeraum war ja das Gros des Inventars noch nicht da. Das haben wir dann mit den Lehrern zusammen im Rathaus auf einen Anhänger geladen, der per Kehrmaschine zur Schule fuhr.

Balcerowski: Apropos Anekdote - kannst Du Dich noch an die Hellhörigkeit der Wände erinnern?

Kranert: Ja, Streitgespräche fanden meist unter Anteilnahme sämtlicher Mieter der Nachbarwohnungen statt.

Balcerowski: Nicht nur Streitgespräche. Die Schlafzimmer waren ja auch nicht gerade geräuscharm.

Kranert: Tja, zumindest im Weinbergsweg ist inzwischen eine schon gespenstische Ruhe eingezogen. Ein bisschen komisch ist es schon, dass nach so kurzer Zeit komplette Häuser wieder verschwinden werden. Im Dezember sind die beiden Blöcke Geschichte.

Balcerowski: Ich sehe die Platte auch nach wie vor nicht als Makel, auch wenn sie hier überhaupt nicht in den dörflichen Charakter der Thalenser Altstadt passt. Auf der anderen Seite zeigt der Abriss aber auch den Niedergang der Stadt nach der Wende. Es wäre schön, wir wären 17 000 Einwohner geblieben, dann hätten wir manches Problem heute nicht. Doch mit Nostalgie kann man nicht die Zukunft gestalten. Die Blöcke lassen sich aufgrund mangelnder Nachfrage nicht mehr vermieten, bedrohen Wohnungsgesellschaft und AWG existentiell.

Kranert: Und was kommt nach dem Abriss?

Balcerowski: Die Grundstücke sollen weiter Bauland bleiben, die Infrastruktur ist ja intakt. Einfamilien- und Reihenhäuser könnten her.

Kranert: Meinst Du, hier zieht wer her, mit Blick auf eine Reihe Neubaublocks?

Balcerowski: Es wird auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weitere Anpassungen bei den Plattenbauten geben. Ich denke, wir müssen uns insgesamt von den Fünf- und Sechsgeschossern verabschieden. Und warum sollte niemand mehr her wollen? Südseite, viel Sonne, nach hinten der Weinberg. Das ist hier kein schlechter Fleck.