Neo Rauch in Aschersleben Neo Rauch in Aschersleben: Annäherung an früh verstorbenen Vater

Aschersleben - Wieviel Hanno steckt in Neo Rauch? Über den gemeinsamen Vornamen hinaus, den Neo an zweiter Stelle trägt. Welchen Einfluss kann ein Vater auf seinen Sohn nehmen, wenn das Schicksal sie vier Wochen nach dessen Geburt und, schlimmer noch, gemeinsam mit der Mutter, auf tragische Weise einander entreißt? Hanno und Helga Rauch, 21 und 19, kamen 1960 bei einem Zugunglück ums Leben. Abrupt verschoben sich Perspektiven, Räume und Zeiten. Leibhaftige Begegnung blieb Sohn Neo für immer verwehrt.
Auf den Monat genau 56 Jahre später hängt der international geschätzte Maler mit seiner Galeristin in der Heimatstadt 25 neue Zeichnungen, Grafiken und große Papierarbeiten neben etwa 50 Werke aus dem Nachlass des Kunststudenten Hanno. Darunter neun Porträts, Zeichnungen einer jungen, hübschen und zumeist ernst dreinschauenden Frau. Eines davon, dunkel-farbig, begleitete Neo in seinen Kinderzimmer-Tagen. Jetzt ist eine ganze Ausstellungswand allein „Helga“ gewidmet. Der Künstler bei seinen Wurzeln.
Dieses Wochenende im „Schwitzkasten“ der Öffentlichkeit. Die Ausstellung „Hanno & Neo - Vater und Sohn“ am Freitag unter großem Medieninteresse eröffnet, wurde noch übertroffen vom öffentlichen Andrang am Sonnabend in der Grafikstiftung, in der Stadt und in ihren Hotels. Eine Hommage des etablierten Malers an seinen talentierten Vater.
Der Einfluss, den es direkt nie geben konnte, wird offensichtlich. Eine genetische Disposition zur künstlerischen Ausdrucksweise, dunkle Farbwelten, feine Striche hier und eher flächige Darstellung da. Die Themen: Industrie- und Kohlelandschaften, Bahnmotive beim Vater, beinahe wie eine Vorahnung. Und Porträts. Zwischen 1957 und 1960 entstanden vor allem Holzschnitte, Grafiken und Zeichnungen. Seit sich der Geraer Junge Hanno an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät in Dresden auf ein Kunststudium vorbereitete und es 1959 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig begann.
Schon in Dresden traf die ebenfalls künstlerisch ambitionierte Helga Wand aus Aschersleben auf Hanno, lernte ihn kennen und lieben. Das Paar wechselte nach Leipzig, wo Helga Buchgestaltung studierte. Gerade waren sie Eltern ihres Neo geworden, da zerriss die Tragödie den Lebensentwurf.
„Es ist offenkundig, dass da ein großer Maler auf uns zugekommen wäre“, glaubt der gereifte Sohn, Meisterschüler und Hochschul-Lehrer vom studentischen Vater und erkennt viele Ansätze, die den eigenen ähneln. Während die Großeltern „eher amusisch“ gewesen seien, der Großvater in Aschersleben zum Beispiel Hauptbuchhalter, „da wurde Wert draufgelegt, auf das ’Haupt’“, nahm Neo bewusst unbewusst den abgebrochenen Weg des Vaters an derselben Hochschule auf und gestaltete seine Lebensvision weiter.
Ob er sich wiedererkenne, wenn er auf die beiden Selbstporträts des Vater-Studenten in Kreide und als Holzschnitt schaut, wird Neo Rauch gefragt. „Ich denke, ich habe mich ähnlich wahrgenommen als 19-Jähriger. Aber nein, ich war nur halb so selbstbewusst.“ Es gebe auch Unterschiede, er selbst nehme sich zurück.
Vergleiche, Kongruenzen und Abgrenzungen atmet diese erste Schau von Vater und Sohn. „Als wir die nächste Ausstellung planten, vor ungefähr einem Jahr“, berichtet Stiftungsvorsitzende Kerstin Wahala, „kam Neo in seiner besonnenen Art mit dieser privaten Idee. Man merkte, die hatte er sich nicht eben mal überlegt.“ Vier, fünf Jahre brauchte es demnach, „dass es jetzt geschehen musste“, wie der Maler preisgibt. Denn die Annäherung an den Vater habe sich vollzogen in dem Moment, als der eigene Sohn Leo (Leonard) 21 und älter wurde, als der Vater jemals war. „Mein Vater rückte mir plötzlich sehr nahe. Aus der Sicht eines 56-Jährigen ist ein 20-Jähriger ein Kind.“ Die angelegte Vaterdatei war in den Arbeitsspeicher gewechselt, und Neo nahm sich die ererbte Zeichenmappe erneut zur Hand.
„Das ist die Situation, in der ich mich heute sehe.“ Sohn Neo steht vor seinem Öl-Papierbild „Stellwerk II“, ein ergrauter, kindkleiner Mann, behütet in den Armen seines Vaters. Alte Erinnerungen flossen ein, Stimmungen und Farben aus dem Kinderzimmer und der groß-elterlichen Wohnung in Aschersleben. „Meine Eltern waren sowas wie große Geschwister, deren ich nicht habhaft werden konnte, die nur in Fotos, von oben, von den Wänden herab, auf mich einwirkten.“
Wie stark sie prägten, erwartet Neo Rauch nicht zuletzt aus der Resonanz dieser Ausstellung und mit Einschalten seines analytischen Verstandes herauszufinden. Ein Katalog sei auch deshalb erst zum Oktober geplant, damit Zeit bleibt für die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Themenstellung, die gleichzeitig eine sehr private ist. „Da habe ich einiges zu tragen und versuche, das jetzt abzuschließen.“
Geblieben sind ihm dafür auch die 200 Werke aus dem Nachlass Hanno Rauchs. „Es ist unfassbar, wie fleißig er war“, bestaunt Neo dessen Leistung. Und geblieben ist auch eine Vase, ein Erbstück der Eltern von besonderer Bedeutung, die es deshalb auch in die Bildkomposition bei „Stellwerk II“ drängte. Sein Vater hatte sie in Dresden aus Kriegstrümmern geborgen. Ein Schatz. Sollte sie zerbrechen, wäre irgendwie alles verloren. (mz)