Nacht der Sinne in Aschersleben Nacht der Sinne in Aschersleben: Zwischen Nachtlichtern
Aschersleben - Dieser gesäuselten Einladung können die Umstehenden nur folgen: Herabhängende Fäden nehmen, die Enden um die Zeigefinger wickeln und dann die Finger in die Ohren stecken.
Alsbald legt der Verführer los, und fortan dringen sphärische Klänge vom Streichen über Fahrradspeichen und Kleiderbügel, vom Anstoßen der vernetzten Maulschlüssel und Löffel in die Köpfe bis ins Innerste. „Echt cool“, entfährt es der jungen Frau nebenan. Dieses Erleben will sie mit ihrer Nachbarin zur Linken teilen und reicht ihr zwei baumelnde Strippen.
Schwingklingklang mit einer optisch merkwürdigen Installation
„Schwingklingklang“ nennt das Theater Anu diese optisch merkwürdige Installation, die plötzlich Sinn macht. Die Compagnie aus Berlin hat sie am Sonnabend, neben etlichen anderen wieder, mit nach Aschersleben gebracht. Anu und die Nacht der Sinne gehören schon beinahe untrennbar zusammen. Poesie, Geschichtenerzählen, Schattenspiele und Lichter.
Ein Labyrinth der Lichter in Tüten, Lichter im Glas, in Guckkästen, auf Leinwänden, von Lampions und Laternen. Lichter verwandeln die nächtlichen Gartenträume-Parks in eine Wandeloase für hunderte Aschersleber jeden Alters, ihre beglückten Verwandten, Freunde und vielen Gäste aus Nah und Fern.
Tagelange Vorbereitung und unzählige Kerzen und Fackeln
Doch bevor es so weit ist, muss letzte Hand angelegt werden. Sie wisse es gar nicht genau, wie viele Kerzen und Fackeln die Kulturanstalt für den Stadtpark, das Rosarium und die Eine-Terrasse eingekauft hatte.
Beate Kramer, die Chefin der Aschersleber Kulturanstalt als Veranstalter, hockt im Gras und blickt nur kurz auf, weil sie, wie ihre vielen Helfer, noch vor Einbruch der Dunkelheit die unzähligen Lichter mit einem Feuerzeug entfacht.
Tagelang geht das schon, dass die Parks unter Ausschluss der Öffentlichkeit präpariert werden müssen. Auch Luisa Töpel, die dem Museum vorsteht, entzündet Kerzen am Wegrand. „Klar, voller Einsatz bis zuletzt!“ Stimmung und Wetter passen. „Einen schönen Abend!“ geben die Damen mit auf die Parkreise.
Poetische Schattenspiele
Der große Schattenmann nimmt am Ende der Performance den kleinen an die Hand. Auch sie scheinen sich auf den Weg zu machen und erkunden die Nacht.
Eben noch haben sie sich geneckt und genervt, am Fuß gekitzelt, über den Körper gestrichen oder am Kopf gekratzt. Ein Anu-Theatermann, ein Bettgestell, Lichtquellen und die Reflektionsfläche erzeugen diese amüsanten wie poetischen Schattenspiele.
Körperbeherrschung in Perfektion und spektakulären Kostümen - der mimische Zug der Stelzer flaniert wortwörtlich überirdisch durch die Nacht. Im Sog der Stelzenläufer und ihrer Walk-Acts gelangen ihre Bewunderer beinahe unbemerkt gleich zum nächsten Schauplatz.
Vier Meter zwischen Baum und Erde schwingt, windet und wickelt sich Künstlerin Kaja in einer leuchtend roten Stoffbahn. Akrobatisch und verführerisch lasziv buhlen das lange dunkle Haar und die weiße Spitzenwäsche von Kaja um Bewunderung.
Ein professionell erarbeitetes Kinderspiel! Im Stundentakt lockt die Showfrau bis Mitternacht immer wieder an „ihren“ Baum mit flammendem Feuer, sinnlichen Tänzen und faszinierenden Effekten.
Das Publikum lässt sich verführen und verfällt den unwiderstehlichen Reizen allerorten. „Man muss immer etwas haben, worauf man sich freut.“
Am Übergang zwischen Stadtpark und Eine-Terrasse bringen hinterleuchtete Sinnsprüche wie dieser von Eduard Mörike einfache Wahrheiten auf den Punkt. Eine Serenade der Magie und Lebensfreude, in Bilder und Töne gegossen.
Das Konzept der Sinnennacht in Aschersleben stimmt, wurde von Mal zu Mal den Bedürfnissen angepasst und so perfektioniert. Jede Menge Erlebnis und Imaginäres. Eine Wiederkehr, die unbedingt sein darf, „weil es so schön ist“, freut sich auch Karl vom Böckel über den Besucheransturm an seiner Gastrolounge vom Grauen Hof, während er mit dem Elektroanschluss kämpft.
Lauschige Plätze gibt es in ausreichender Zahl
Das Restaurant Körbchen und eine weitere Schankwirtschaft tragen zur guten Stimmung bei. Einladende, lauschige Plätze zum Sitzen, Stehen oder gar Liegen in mehr als ausreichender Zahl. Viele gepflegte Gelegenheiten zum Essen und Trinken, und auch, um das Konsumierte wieder loszuwerden.
Fünf durchdacht verteilte Bühnen schicken Weltmusik in den Raum, im grenzüberschreitenden Stilmix von osteuropäischer Melancholie, urbanen Beats, lateinamerikanischer Leidenschaft des Tango Argentino bis hin zu sinnlichen Gitarrenklängen mit Kontrabass.
Und dem lachend-glucksenden „Haha“, oder doch lieber „Hello“, von June Cocó. Die Musikerin, Songwriterin aus Leipzig lässt den Leuten vor ihr die Wahl beim Mitsingen und stellt fest: „Hello funktioniert besser als Haha“. Sie sitzt am Klavier und singt mit Publikumsunterstützung ihr „Lied über die Smartphone-Zombies, die wir alle geworden sind“.
Inszenierter Sinnspruch
Diese Nacht ist jedoch irgendwie anders. Mag sein, dass auch die von June aufgestellte Winke-Katze ihr Werk vollbracht hat. Sie soll schließlich die „lieben Leute herbeirufen und einfangen“, begründet sie.
Denn: „Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen.“ Noch so ein inszenierter Sinnspruch, hier von Guy de Maupassant, der die aufwendige Parkbespielung mit dem wieder einmal beherrschten Wetterrisiko charakterisiert. (mz)

