1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Aschersleben
  6. >
  7. Marlen Luthers Liebeserklärung an ihr Drohndorf und die Frage, ob man vielleicht doch wieder zurück zu den Wurzeln sollte

Dorfgeschichten Marlen Luthers Liebeserklärung an ihr Drohndorf und die Frage, ob man vielleicht doch wieder zurück zu den Wurzeln sollte

Ist Meal-Prepping wirklich ein neuer Trend? Kann man Stille hören? Und warum ein weißes Blatt Papier so viel Hoffnung in sich birgt.

Aktualisiert: 16.01.2022, 13:41
Auf dem Hof von Marlen Luther gibt es noch Butterschleuder und Butterholz.
Auf dem Hof von Marlen Luther gibt es noch Butterschleuder und Butterholz. Foto: Marlen Luther

14 Tage ist das neue Jahr nun schon alt und ich überlege, worüber ich schreiben könnte. Ich gehe mit dem Cursor an die Stelle in meiner Vorlage, an der „Text, Text, Text ...“ steht, und je öfter ich das Wort lese, desto seltsamer kommt es mir vor. Ich schweife ab. Gieße neues Wasser in die Duftlampe, schreibe einen Instagrambeitrag über die Farbe Türkis. Akustisch setze ich alles auf die Playlist „Electronic Concentration“, um zu einem Fokus zu gelangen. Schwierig, „Music Concentration for Work“ und „Music for Study and Work“ hatten schon nicht funktioniert. Aber dann ist das wohl so. Ich sollte das neue Jahr mit viel Nachgiebigkeit mir gegenüber beginnen.

Wenn man immer nur etwas ausgießt, ist irgendwann nichts mehr drin in der Kanne. Also muss sie nachgefüllt werden. Mit Muße, mit Denken, mit Träumen, mit Musik, mit Düften, einem schönen Tee und dem Gefühl von kuscheligem Katzenfell.

Beinahe leere Kanne

Eine denkwürdige Begegnung mit meiner beinahe leeren Kanne machte ich am letzten Tag des alten Jahres. In meiner temporären Funktion als Strohwitwe fiel mir zwischen zwei Familienbesuchen ein, dass wir wohl noch etwas einkaufen müssten. 45 Minuten vor Ladenschluss suchte ich verzweifelt den Einkaufszettel, den ich kurz zuvor vom Block abgerissen hatte, um ihn mit zum Supermarkt zu nehmen. Jacke an, Schuhe an, Einkaufskiste bereit, Kinder bereit, sogar an die Pfandflaschen gedacht – nur der Zettel fehlte. Ich suchte sämtliche Jacken- und Hosentaschen ab, sprintete durch alle Räume, schaute dreimal in die Einkaufskiste und fand ihn schließlich – im Papiermüll.

Pünktlich zur Ladenschlussansage packten wir unser Zeugs auf das Kassenband und ich war der Verkäuferin so dankbar dafür, dass sie uns trotz der fortgeschrittenen Zeit ausgesprochen freundlich bediente. Auf dem Nachhauseweg überlegte ich, welche Tatsache mich eigentlich nachdenklicher machen sollte – diese, dass ich den Einkaufszettel in geistiger Umnachtung in den Müll geworfen hatte, oder jene, dass ich überhaupt im Müll nachgeschaut hatte, ich es mir also durchaus ZUTRAUTE, ihn in den Müll geworfen zu haben. Ich war definitiv an einem sehr tiefen Punkt auf der Skala meiner Selbstachtung angelangt.

Marlen Luther
Marlen Luther
Foto: Luther

Die Stille des Dorfes

Als ich am ersten Tag des neuen Jahres das Fenster öffnete, war es mild wie im Frühling und nur die friedliche Stille des Dorfes war zu hören. Kann man Stille überhaupt hören? Wenn wir früher zum Wochenendbesuch aus der Stadt ins Dorf gefahren waren, hatten wir nach der Ankunft immer ein kleines Ritual, das hieß „Alle mal leise sein!“. Nichts oder kaum etwas zu hören, wirke wie eine lang ersehnte, wohltuende kleine Wellnessanwendung.

An jenem ersten Januarmorgen wurde diese Stille nur sanft illustriert von einem Hahnenkrähen und den Rufen einiger verirrter Wildgänse, die seltsamerweise nach Norden flogen. Nun ja, sie werden ihre Gründe gehabt haben. Ich fühlte in das neue Jahr hinein und mir kam in den Sinn, wie unschuldig es doch war. Vollkommen unbeschrieben wie ein weißes Blatt, für das kein Kunstwerk und keine Geschichte der Welt, keiner unserer geheimsten Wünsche und keine unserer größten Fantasien zu unmöglich schienen, zu Papier gebracht zu werden.

Minifernseher und Musikmütze

Als Kind hatte ich einen Traum, den ich mir regelmäßig mit einigen meiner Mitschüler ausmalte. Wir träumten davon, einen Mini-Fernseher zu besitzen, mit dem wir heimlich unter der Schulbank Filme gucken konnten, ohne dass es jemand mitbekam. Heute besitzt beinahe jeder von uns so einen Minifernseher. Aber fühlt es sich so großartig an, wie es damals in unserer Vorstellung war? Nicht so richtig. Für den Sohn lag dieses Jahr eine Mütze unter dem Weihnachtsbaum, die integrierte Kopfhörer hat. Von außen überhaupt nicht zu sehen. Wie wunderbar die Welt geworden war! Ein eigener Minifernseher und eine Musikmütze – niemals hätten wir als Kinder gedacht, dass uns der Fortschritt einmal so etwas bescheren würde.

Gleichzeitig scheint uns das Leben unserer Großeltern wie aus einer anderen Welt. Fortschritt – darin steckt auch das Wort „fort“. Wohin schreitet er? Und nimmt er uns überhaupt mit, dieser Fortschritt? Das Leben ist so viel leichter geworden. Dafür haben wir jedoch essenzielle Dinge verlernt, welche uns die kleinen Minifernseher und viele andere Erfindungen abnehmen. Das Wetter zu beobachten, mit den Jahreszeiten zu leben, Dinge herzustellen, für uns zu sorgen, Erdverbundenheit zu fühlen, uns selbst zu fühlen.

Neue Trends mit ollen Kamellen

Ich hege die Hoffnung, dass der Trend wieder zurück zu den Wurzeln geht. An vielen Stellen ist das zu spüren, auch wenn es manchmal komische Auswüchse hat. Ausgerechnet in einem Berliner Feinkostgeschäft sah ich letztens einen Alltagsgegenstand, der bei uns auf dem Hof schon Museumsstatus hat und eigentlich nicht mehr benutzt, weil nicht mehr gebraucht wird. Die Butter wird dort noch lose im Pfund verkauft. Die Verkäuferin formt die gewünschte Buttermenge aufwändig mit einem Butterholz, genau so einem gerillten, wie wir es auf dem Hof haben, und wickelt sie dann ein. Man sollte also Zeit mitbringen. Fasziniert trug ich die Butter nach Hause.

Ein neuer Ernährungstrend ist das sogenannte „Meal-Prepping“. Man bereitet sich beim Essenmachen gleich eine oder mehrere Mahlzeiten für den nächsten Tag vor – man höre und staune! Früher hieß das einfach „Vorkochen“, und dass man aus Resten oft noch etwas Schönes zaubern kann, ist sicher nie ein Geheimnis gewesen. Aber vielleicht fühlt es sich ja einfach besser an, „Neues“ zu entdecken und Teil des Fortschritts zu sein als irgendwelche ollen Kamellen mit dem Charme einer angeschlagenen Emailleschüssel aufzuwärmen.

Das weiße Blatt der Hoffnung

Interessant wäre es, einmal unsere Kinder zu befragen, welche Erfindungen sie sich denn für die Zukunft vorstellen, was sie sich wünschen oder erhoffen. Bestimmt haben sie abgefahrene Ideen und lachen sich über meinen „Minifernseher“ kaputt. Um aber wieder zurück auf das neue Jahr zu kommen – ich wünsche mir eigentlich nicht viel mehr, als diesen Gedanken des leeren weißen Blattes noch eine ganze Weile zu bewahren: Tag für Tag ein Blatt zu haben, auf dem ich weiterschreiben kann mit diesem Gefühl, in dem noch alle Hoffnung der Welt steckt.