Kein Tag gleicht dem anderen
ASCHERSLEBEN/MZ. - "Wir stehen immer auf ihrer Seite, egal in welcher Situation die Jugendlichen stecken", sagt Andrea Schade. Ihre Kollegin Christiane Steinbrecher nickt. "Wir wollen den Jugendlichen helfen und ihr Vertrauen nicht verlieren. Dass wir der Schweigepflicht unterliegen, machen wir ihnen deshalb gleich zu Beginn klar", unterstreicht sie, dass jegliche Befürchtungen, etwas könne nach Außen durchsacken, unbegründet sind; auch die Eltern werden nur auf ausdrücklichen Wunsch der Jugendlichen hinzugezogen. Wer meint, Streetworking spielt nur in Metropolen wie Berlin, Hamburg oder Stuttgart eine Rolle, der fehlt. Auch in einer Stadt wie Aschersleben bildet es neben der allgemeinen Jugendpflege einen Schwerpunkt der Kinder- und Jugendarbeit. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass "wir hier das ganze Klientel betreuen, die komplette Bandbreite und nicht nur bestimmte Bereiche abdecken".
Oft bewegen sich die beiden Frauen im Milieu sozial benachteiligter oder kriminalisierender Gruppen und Personen, wo Gewalt auf der Tagesordnung steht, doch nicht immer sind Herkunft und Umfeld "schuld" an der Notlage des einen oder anderen. Das Klischee entschärfen Steinbrecher und Schade energisch: "Niemand sollte sagen ,mein Kind nicht', Probleme können in jeder Familie auftauchen." "Kinder gehen mit ihren Problemen nicht zu den Eltern", weiß Steinbrecher. Einen Außenstehenden als Ansprechpartner zu haben, ist besonders in der Jugend von enormer Bedeutung.
Wenn man bedenkt, wie lange die zwei Frauen schon als Streetworkerinnen in Aschersleben arbeiten - Steinbrecher ist seit zwölf Jahren im Einsatz, Schade seit acht, "die Jugendlichen kennen uns, wir kennen sie und wissen, wo die sozialen Brennpunkte sind" - möchte man meinen, es gibt keine Situation, die die beiden noch nicht erlebt haben. Das stimmt so nicht, wiegeln sie ab. "Kein Tag gleicht dem anderen, an jedem müssen neue Entscheidungen gefällt werden." Oftmals komme ihre Arbeit einer Gratwanderung gleich, sagen sie. Deshalb ist ihnen der Austausch untereinander auch sehr wichtig. "Es gibt auch Fälle, in denen wir uns an unsere Vorgesetzten wenden", sind sie dankbar ob dieser Möglichkeit. Denn zumeist ist es mit dem eigentlichen Problem nicht abgetan, "das Drumherum muss zuerst geregelt werden", sprechen sie von einem "langen Weg", den sie mit den Mädchen und Jungen - ihre jüngsten Klienten sind 12 - beziehungsweise jungen Frauen und Männern - die ältesten sind 28 - über Jahre hinweg gemeinsam gehen. Oft erfolgreich. "Es wäre ja traurig, wenn es keine Erfolgserlebnisse geben würde", sagt Schade, die sich wie ihre Kollegin freut, dass viele ihrer einstigen Schützlinge den Kontakt halten, mal auf einen Kaffee in der Beratungsstelle vorbeikommen, erzählen, wie es ihnen geht, die neue Freundin oder das gemeinsame Kind vorstellen... Das motiviert.
Doch nicht immer glückt die Hilfe, Härtefälle, sagen sie, gibt es auch, junge Menschen, die ihr Leben zwischenzeitlich auf die Reihe bekommen haben, dann wieder rückfällig geworden, schlimmstenfalls in Haft sind. Beispiel Suchtkranke: "Von den hart Drogenabhängigen schafft den Absprung einer von zehn." Die Drogenproblematik ist eine Schwerpunktaufgabe. "Als ich damals vor zwölf Jahren angefangen habe, dramatisierte sich das gerade", erinnert sich Steinbrecher. Jetzt, so ihr Gefühl, sei zumindest der Trend, zu harten Drogen zu greifen, rückläufig.
Die Zuständigkeit der Streetworkerinnen beschränkt sich nicht nur auf Aschersleben, sondern auch die eingemeindeten Ortsteile. Seit einem Jahr fahren sie regelmäßig in die Jugendclubs, schauen nach dem Rechten und suchen den Kontakt zu den dort Beschäftigten, um sie gegebenenfalls in einigen Fragen zum Umgang mit den Kindern und Jugendlichen zu unterstützen.
"Wenn man nicht die Liebe und den Bezug zu diesem Beruf hätte, könnte man gar nicht als Streetworker arbeiten", ist Steinbrecher überzeugt davon, dass es schon eines gewissen Feelings bedarf. Und starker Nerven, denn "nimmt man alles mit nach Hause, würde man zerbrechen", sagt Schade. Man muss auch mal abschalten. Das ist schwer, denn Feierabend haben Streetworker eigentlich nie. Zwar haben sie ihre feste Arbeitszeit - von 13 bis 21.30 Uhr - und doch sind sie stets erreichbar: "Einer von uns hat sein Handy immer an", so Steinbrecher, "unser Privatleben ist ein ganz anderes geworden, seit wir als Streetworker arbeiten", sagt sie.
Sowohl sie als auch Schade haben Familie - Ehemänner, Kinder, die bereits aus dem Haus sind, und Enkel. Und die hatten es nicht immer leicht, geben sie zu: "Zu Hause bleibt man Mutter, auch wenn man vieles lockerer sieht." Doch die sozialpädagogische Ausbildung und die jahrelange Erfahrung mit Jugendlichen haben die Sinne geschärft. "Wir reagieren viel sensibler auf das Privatleben der Kinder, denn wir wissen ja, wo es hinführen kann..." Sobald es auf Arbeit geht, legen Steinbrecher und Schade ihr Privatleben und eigene Sorgen ad acta, denn die jungen Leute "wollen niemanden mit einer Trauermiene". Ihnen kommt's zwar in erster Linie darauf an, auf offene Ohren zu stoßen. Doch sie wollen auch mal gut lachen können. "Und das können wir mit ihnen", versichern die zwei Frauen.