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B 6n-Freigabe B 6n-Freigabe: Ilberstedt atmet auf

Von Katrin Löwe 15.12.2011, 20:37

Ilberstedt/MZ. - Es steht unscheinbar in der Ecke. Ein rotes Gerüst, unschwer als Gestell einer Hollywoodschaukel zu erkennen. Gesessen haben Christa und Karl Müller auf ihr schon ewig nicht mehr. Und wer das Ehepaar - sie 70, er 71 - besucht, hört schnell warum. Das Gerüst steht im Vorgarten, nur wenige Meter von der Hauptstraße in Ilberstedt (Salzlandkreis) entfernt. Wer hier sitzt, versteht das eigene Wort kaum. "Hier kann man nur brüllen", sagt Christa Müller.

Unablässig rauschen am Grundstück nicht nur Pkw, sondern vor allem schwere Lastwagen vorbei. Bei Ilberstedt ist das letzte Stück, auf dem die Bundesstraße 6n zur Autobahn 14 noch nicht freigegeben ist. Tag für Tag, Nacht für Nacht schiebt sich immer mehr Verkehr durch den 1  100-Seelen-Ort. Seit Ende 2009 das Stück bei Güsten fertig und die B 6n immer attraktiver wurde, "war es ganz schlimm", so Müller. Nun ist Aufatmen angesagt: Am Montag wird die Lücke der Nordharzautobahn bis zur A14 geschlossen.



Ein Stück dörfliche Ruhe wird in Ilberstedt einkehren. Manche, heißt es, zählen nicht nur die Tage, sondern die Stunden und Minuten bis dahin. 50 Jahre leben die Eheleute Müller bereits in ihrem Haus. Ganz ruhig war es dort nie - der Ort lag schon immer an der Ausflugsstrecke in den Harz. Und einst, als die Straße noch aus Kopfsteinpflaster bestand, da ging es nicht nur laut zu, da gab es bei Regen oft Unfälle. "Aber jetzt, zuletzt, das war die Spitze", sagt Christa Müller. Bei offenem Fenster schlafen: undenkbar. Und wenn das Fernsehprogramm sie doch mal länger gefesselt hat, dann drohte die Nacht ganz kurz zu werden, weil zwischen 3 und 4 Uhr wieder der Lkw-Verkehr einsetzte. "Ich bin etwas empfindlich beim Einschlafen, das hat mich schon alles sehr belastet", sagt die 70-Jährige.

Am schlimmsten war es, wenn die Autotransporter kamen. Das Klappern über dem Gully oder den notdürftig geflickten Löchern in der Straße war dann so stark, dass Müllers ein ums andere Mal nachsahen, ob etwas passiert ist. Manchmal hatten sie das Gefühl, der Transporter stehe schon in ihrem Vorgarten. "Auf diesen Tag der Freigabe warten wir wirklich sehnsüchtig", sagen Müllers. Empfindungen, die Bürgermeister Lothar Jänsch (Unabhängige Wählervereinigung) nachvollziehen kann. Der Zustand der Straße sei durch den zunehmenden Verkehr immer schlechter, der Lärm dadurch immer stärker geworden, erzählt er.

Beschwerden über Beschwerden

Keine Woche verging, in der nicht Beschwerden auf seinem Tisch landeten, keine Radtour durch den Ort, auf der er nicht wegen des Lärms herangewunken wurde. Vor der Freigabe des letzten Teilstücks B 6n sei an eine gründliche Reparatur nicht zu denken, musste er den Bewohnern dann immer wieder sagen. "Das war eine ganz schöne Geduldsprobe." Die nur gemildert wurde durch eine Fußgängerampel, dank derer insbesondere die älteren Ilberstedter überhaupt noch die Straße überqueren konnten, und eines vor Gericht erstrittenen besseren Lärmschutzes zur Nordharzautobahn hin. "Da haben wir das gekriegt, was wir gefordert haben, sogar etwas mehr", sagt er. Und blickt voraus: Die zentrale Lage, die Anbindung an Magdeburg, aber auch an den Harz, ist ein Pfund, mit dem Ilberstedt jetzt wuchern will. Jänsch setzt auf Zuzüge, die Gemeinde überlegt, ein neues Gewerbegebiet zu schaffen. Aber erst einmal freut sie sich auf Montag. "Die Freigabe ist für uns wie ein Weihnachtsgeschenk."

Wie das aber mit Geschenken so ist: Nicht immer treffen sie den Geschmack. Sorgen etwa macht sich Simone Böttger, die unweit von Müllers Grundstück in einer mobilen Feldküche vor allem Bauarbeiter und Kraftfahrer bedient. Kunden, die wohl bald fehlen werden. In Güsten habe ein ähnlicher Imbiss schon geschlossen, erzählt sie. Und hier? Letztlich wird es wohl auf einen neuen Standort hinauslaufen - bestenfalls.

Allerdings scheint sie eine der wenigen zu werden, die den Durchgangsverkehr vermissen. Weder im Landwarenhaus von Reimund Grahl noch in der Fleischerei von Manuel Seiler spielte Laufkundschaft eine große Rolle, wie die beiden Geschäftsleute versichern.

Kunden kommen zurück

Seiler setzt sogar darauf, dass sich bald wieder Kunden aus dem Ort zu ihm wagen, die den Weg über die viel befahrene Straße trotz Fußgängerampel mieden. "Es wird ruhiger und schöner", sagt auch der Inhaber des Hotels Wippertal am Ortseingang, Thomas Beier. Er lebt von Tagungen und Feiern, für die die zentrale Lage ideal ist.

Und Müllers? Vor fünf Jahren haben sie sich ein Gartenhäuschen gekauft, um wenigstens im hinteren Teil des Gartens sitzen zu können. Bald werden sie aber wohl wieder auf der roten Hollywoodschaukel vorn zu finden sein. Sie werden ihr Grundstück mit dem Auto ohne langes Warten auf eine Lücke im Verkehr verlassen können. Und nachts ruhig schlafen.