Analphabetismus Analphabetismus : Allein im unendlichen Buchstaben-Labyrinth

Aschersleben - 200.000 Menschen der deutsch sprechenden, erwerbsfähigen Bevölkerung Sachsen-Anhalts sollen Analphabeten sein. Das hatte im Juni Reinhild Hilkenroth von der Landesnetzwerkstelle Alphabetisierung und Grundbildung der MZ gesagt.
Analphabet zu sein ist das letzte große Tabu unserer Gesellschaft. Vor einem Jahr wurde eine Alphabetisierungsdekade ausgerufen. Eine Landesstrategie soll bis 2019 stehen.
Fast jeder müsste nach den Erkenntnissen einer Studie von infratest dimap bekannten Institutes einen Analphabeten kennen. Doch nur wenige gehen in den Alphabetisierungskurs von Andrea Jarczewsky in die Kreisvolkshochschule Aschersleben.
Analphabetismus: Über die Jahre durchgemogelt, doch jetzt wird es zur Last
Conny war in der Schule nicht so schlecht, sagt sie. „Man hat sich so durchgemogelt.“ Nun aber hat sie zwei Kinder und erkannt, dass sie das Lesen und Schreiben benötigt.
Einträge in Hausaufgabenheften zu lesen fiel ihr schwer. Sie wollte irgendwann auch die Hausaufgaben kontrollieren können.
Es dauerte lange, bis sie den Mut fasste und zur Volkshochschule ging. Sie kommt seit acht Jahren dienstags zwei Stunden zum Alphabetisierungskurs.
„Es ist besser geworden. Aber es hat viel Kraft gekostet.“
Seit fünf Jahren habe sie sogar die Fahrerlaubnis, berichtet Conny stolz. Sie kann inzwischen gut lesen. Nur das Formulieren längerer Texte sei schwer.
Die große Angst, ausgelacht zu werden
Klaus, der schon fast 20 Jahre dabei ist, berichtet ebenfalls von großen Hemmungen, sich zu outen.
„Ich hatte Angst, ausgelacht zu werden. Aber niemand hat über den anderen gelacht. Ich habe gemerkt, die können alle nicht mehr als ich.“
Dank der Dozenten habe er seine Lese- und Schreibprobleme sehr vermindern können. Wenn Klaus einkauft, kann er nun lesen, was Bio ist, wo Geschmacksverstärker enthalten sind und wo Konservierungsmittel, die er nicht verträgt.
Aber ohne regelmäßiges Training, wie in den Sommerferien, wird es wieder schlimmer, hat er erfahren.
Aus der 6. Klasse abgegangen
Sabine aus Hettstedt ist als Kind von den Eltern nicht gefördert worden, sagt sie. In der Sonderschule haben sie Schwierigkeiten beim Rechnen gehabt und sei aus der 6. Klasse abgegangen.
Gegenwärtig arbeitet die Gruppe an einem Rezeptheftchen mit regionalen Gerichten. Sabine hat eines für „Zippeltitsche“ mitgebracht. Die Rezepte sollen sogar am Computer erfasst werden. Die wenigsten haben selbst einen PC.
Auch das Reden ist wichtig
Andrea Jarczewsky sieht es als wichtig an, dass die Teilnehmer nicht nur lesen und schreiben üben, Diktate schreiben oder Arbeitsblätter ausfüllen. „Es ist wichtig, sie reden zu lassen.“ D
ie Teilnehmer werden selten nach ihrer Meinung gefragt. Sie seien keine reine Schule, sondern ein bisschen Selbsthilfegruppe und diskutieren auch über lebensnahe Themen, die sie bewegen.
Der Zusammenhalt in der Gruppe sei gut, sagt die Lehrerin.
Der Jüngste ist Mitte 20, die Ältesten sind über 60. Andrea Jarczewsky würde gern noch mehr tun, eine zweite Gruppe aufmachen, Anfänger und Fortgeschrittene trennen.
Doch dafür fehlt es an Anmeldungen. „Wir sind zu wenig Leute, viele scheuen sich, haben keinen Bock, und werden von anderen nicht unterstützt. Die lassen sich gehen.“
Vielleicht könnte ein Gespräch bei der Lebenshilfe helfen. „Es ist ein Stück Lebensqualität, wenn man versucht, dranzubleiben.“
Die wenigsten Analphabeten melden sich selbst
Änne Forisch, die Leiterin der Kreisvolkshochschule, berichtet, dass die wenigsten Analphabeten sich selbst melden.
Zwar bekommen sie ein- oder zweimal im Jahr einen Anruf vom Jobcenter, Ehepartner oder Arzt mit der Anfrage nach einem Test.
Doch letztlich kommen die nie bei ihr an.
Änne Forisch unterscheidet zwei Gruppen Analphabeten. Primäre Analphabeten haben in ihrer Muttersprache das Lesen und Schreiben gelernt, haben aber leichte und mittlere Behinderungen.
Die Gruppe, die die Politik erreichen will, sind die funktionellen Analphabeten, die es mal erlernt, aber nie ganz perfekt beherrscht haben, vielleicht nach der 9. Klasse die Schule verließen, eine Berufsausbildung absolviert haben und funktionieren.
Ihren Alltag beherrschen diese. Nur gelegentlich stoßen sie an ihre Grenzen „Die sind unheimlich schlecht zu erreichen.“
Von der Freiberuflerin zur Angestellten
2008 hatte Andrea Jarczewsky die Gruppe übernommen. Erst war die gelernte Unterstufenlehrerin als Freiberuflerin für die Kreisvolkshochschule tätig, inzwischen ist sie in Bernburg fest angestellt.
Doch die Alpha-Gruppe in Aschersleben betreut sie, wie drei kleine Gruppen im Schloss Hoym, weiter. Hilfe durch neue Lehrkräfte würde sie sich auch wünschen, um noch mehr anbieten zu können. (mz)