Arbeitslose hoffen auf Urteil 72 Quadratmeter zu groß für zwei Menschen?: Arbeitslose aus Aschersleben hoffen auf Gerichtsurteil

Aschersleben - Für Jutta und Helmut Kohlleppel ist der 30. Januar ein ganz besonderer Tag. Der Tag, an dem über die Übereinstimmung von Recht und Gerechtigkeit vor dem Bundessozialgericht entschieden wird. Jahrelang mussten sich der mittlerweile in Rente gegangene 67-Jährige und seine seit Kurzem wieder berufstätige Frau einen Teil ihrer ohnehin knappen Grundsicherung vom Mund absparen.
Insgesamt 70 Euro wurden ihnen monatlich von Regelleistungen abgezogen. Der Grund: Ihre 72 Quadratmeter große Wohnung in der Ascherslebener Gartenstadt ist laut Jobcenter zwölf Quadratmeter zu groß und mit 295 Euro Kaltmiete auch noch zu teuer. „Man muss schon schauen, wo man etwas abknapsen kann“, sagt Helmut Kohlleppel.
72 Quadratmeter-Wohnung kostet 295 Euro: zu teuer laut Jobcenter
Denn was für manche nach einer überschaubaren Summe klingt, waren für das Paar immerhin zehn Prozent ihrer Bezüge. Seit 2008 klagen sie deshalb gegen das Jobcenter des Salzlandkreises. Dieser Rechtsstreit wird nun in dritter Instanz ausgefochten. Die Kohlleppels sind nicht die einzigen Kläger.
Rechtsanwalt Nico Sauer aus Aschersleben vertritt neben den Kohlleppels weitere Mandanten in über 1.200 laufenden Verfahren aus dem Salzlandkreis und dem Harz. „Wir streiten hier im Prinzip darüber, was angemessene Kosten für eine Wohnung sind“, sagt Sauer.
Wie teuer darf Wohnung eines Hartz-IV-Empfängers sein?
Vor dem höchsten Sozialgericht Deutschlands in Kassel geht es laut Sauer um eine Familie aus Aschersleben, deren Fall stellvertretend für all die anderen Kläger verhandelt wird, die sich gegenüber der MZ aber nicht äußern wollte.
Zum ersten Mal, so Sauer, werde damit die Frage nach der Miethöhe in einem deutschen Flächenland in letzter Instanz behandelt: Wie teuer darf die Wohnung eines Hartz-IV-Empfängers sein?
Darüber wird im Rechtsstreit zwischen Jobcenter und den zahlreichen Langzeitarbeitslosen verhandelt. Diese klagen gegen die Kürzungen von Mietzahlungen. In vielen Fällen hatten Sozialgericht und Landessozialgericht den Klägern Recht gegeben. Nun ist das Jobcenter erneut in Revision gegangen.
Grundlage der Entscheidungen ist Durchschnittsmiete im Kreis
Grundlage für die Bestimmung einer angemessenen Miete der Wohnung eines Hartz-IV-Empfängers ist seit 2012 das sogenannte schlüssige Konzept, das auf der Durchschnittsmiete im Landkreis beruht. Das Konzept sieht eine Kaltmiete von maximal 264 Euro bei höchstens 50 Quadratmetern Wohnfläche für eine Person vor.
Das Bundessozialgericht hatte eine Schmerzgrenze von 415 Euro Kaltmiete festgesetzt, den Landkreisen aber die Freiheit eingeräumt, bei Vorlage eines schlüssigen Konzeptes einen niedrigeren Betrag festzulegen. Die Angemessenheit eben dieses Konzeptes zweifeln die Kläger an. „Zwischen den Vorgaben des Bundessozialgerichtes und denen des Landkreises liegen Welten“, so Anwalt Sauer.
Bundessozialgericht hatte Grenze von 415 Euro Kaltmiete festgesetzt
Das Konzept wurde im Auftrag des Landkreises von der Hamburger Firma „Analysen und Konzepte“ erstellt, die bereits für andere Landkreise und Ministerien ähnliche Berechnungen angestellt hatte. Das Unternehmen zog rund 28.000 Mietdaten aus dem ganzen Landkreis heran und ermittelte deren durchschnittliche Höhe. Die gilt seitdem als Maßstab für die angemessene Miete für die Wohnung eines Hartz-IV-Empfängers.
Kritikpunkte an der Methode gibt es viele: Zum einen sei der Anteil der freien Wohnungen in den erhobenen Daten verschwindend gering. Von den 28 000 Wohnungen seien höchstens 1 000 Angebotsmieten, so Sauer. Er hat die Daten nach eigenen Aussage selbst ausgewertet.
Christian Jethon: Unter den Daten sind welche von 1952
Auch Christian Jethon, der für Die Linke im Kreistag sitzt, kritisiert diese Grundlage. So befinden sich unter den erhobenen Daten unter anderem Verträge aus dem Jahr 1952, die bis heute nie geändert wurden. Im Regelfall müssten die Daten alle zwei Jahre aktualisiert werden.
„Die Mieten steigen schließlich immer weiter, das bildet die Daten nicht ab“, so Jethon. Weiterhin sind unter den herangezogenen Daten viele günstige Mietwohnungen mit identischer Fläche von Großvermietern. Im Klartext: „Für das Geld bekommt man oft nur noch schrottige Plattenbauwohnungen am Stadtrand“, sagt Jethon.
Zum einen zieht die Vielzahl dieser Wohnungen die Durchschnittsmiete nach unten, zum anderen werden Hartz-IV-Empfänger so in die wenig beliebten Viertel der Städte verbannt. „Eine solche Ghettoisierung ist vom Bundessozialgericht ausdrücklich nicht gewollt“, bekräftigt Rechtsanwalt Sauer. Das Jobcenter wollte sich zu den Verfahren auf MZ-Anfrage nicht äußern.
Jobcenter kürzt nach sechs Monaten die Zahlungen
Wird eine Überschreitung der als angemessen eingestuften Miethöhe vom Jobcenter festgestellt, werden die Betroffenen informiert und erhalten nach sechs Monaten gekürzte Zahlungen.
Für die Kohlleppels kam ein Umzug aber nicht in Frage. Seit 1990 wohnen sie in dem Vier-Parteien-Haus in der Gartenstadt. „Ich bin hier groß geworden. Unsere Familie und unsere Freunde wohnen hier. Wir sind eine eingeschworene Gemeinde“, so Helmut Kohlleppel.
Für das Ehepaar geht es bei der anstehenden Verhandlung um 3 840 Euro, die sich über Jahre hinweg angesammelt haben. „Das wäre mal ein bisschen Gerechtigkeit. Es geht ja nicht nur um uns, sondern um viele andere mit einem ähnlichen Schicksal“, sagt Jutta Kohlleppel.
Ehepaar Kohlleppel wohnt seit 1990 in dem Vier-Parteien-Haus
Tatsächlich betrifft laut Anwalt Sauer fast jedes vierte Widerspruchsverfahren gegen einen Jobcenter-Bescheid Kürzungen aufgrund zu hoher Mieten. Der Rechtsstreit ist ein landesweites Phänomen. So werden beim anstehenden Termin am Bundessozialgericht auch Fälle aus dem Harz, der Börde und weiteren Landkreisen verhandelt.
Der Ausgang der Verhandlung lässt sich auch für Sauer nicht absehen. Für ihn ist es das erste Mal, dass er in dieser Instanz einen Mandanten vertritt. „Ich bin sehr gespannt, es ist die Frage nach einem politischen Urteil: Wird der kleine Bürger wie immer gedrückt?“
(mz)