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Kunst und Architektur Nancy: Rundgang durch das Jugendstil-Zentrum Frankreichs

Viele Reisende rauschen an der Stadt an der Meurthe vorbei Richtung Süden. Dabei lohnt ein Zwischenstopp: Wegen einer Kunstrichtung, die hier vor etwa 100 Jahren ihren Höhepunkt hatte.

Von Bernd F. Meier, dpa 08.09.2025, 00:05
Prächtig und mit Gold geschmückt sind die Tore am Place Stanislas in Nancy aus dem 18. Jahrhundert.
Prächtig und mit Gold geschmückt sind die Tore am Place Stanislas in Nancy aus dem 18. Jahrhundert. Bernd F. Meier/dpa-tmn

Nancy - Vorhang auf für großes Kino auf dem Place Stanislas: Morgens sitzen Einheimische und Besucher der Stadt auf der sonnigen Terrasse des „Café Foy“ und am Mittag vor der „Brasserie Jean Lamour“.

Sie folgen damit dem Lauf der Sonne, die den prächtigen Place Stanislas eindrucksvoll in Szene setzt. 106 Meter mal 124 Meter dehnt sich die gute Stube von Nancy aus, wird beherrscht von der überlebensgroßen Statue des Herzogs Stanislas. Das Denkmal würdigt den polnischen Adligen, der Nancy im 18. Jahrhundert fast 30 Jahre lang regierte.

Am Place Stanislas beginnen auch die Touren zu Nancys größten Schätzen – der Kunst des Jugendstils und der darauffolgenden Art-déco-Periode. Wie kaum eine zweite Stadt in Frankreich hat Nancy so viele Kunstwerke und Gebäude insbesondere der Jugendstil-Ära aus den Jahren etwa zwischen 1891 und 1911 aufzuweisen.

Höhere Jugendstil-Dichte als in Paris

Bis zu 250 Bauwerke sollen es vor 100 Jahren gewesen sein, so die groben Schätzungen unserer Tage. „Heute sprechen wir nur noch von 50 Gebäuden, vieles wurde im Zweiten Weltkrieg und bei der Stadtsanierung in den 1960er- und 1970er-Jahren zerstört. Statt Jugendstilbauen sehen wir am Bahnhof ein klotziges Hochhaus“, so Stadtführerin Ilse Hübler-Delcroix.

Auch in Paris sind viele Jugendstilbauten erhalten, aber in Nancy stehen viele auf einem Fleck, die Dichte ist hoch und die Stadt war das stilprägende Zentrum des französischen Jugendstils. Zudem ist das beschauliche Nancy längst nicht so überlaufen wie die Kapitale an der Seine. 

Wie der Jugendstil nach Nancy kam

Regelmäßig ist die 77-jährige Deutsch-Französin mit Kunstfreunden und Architekturfans auf den Spuren von Jugendstil und Art déco unterwegs. Aber wie kam der Jugendstil ausgerechnet in die abgelegene ostfranzösische Provinzstadt Nancy?

Antworten darauf gibt der Blick in die wechselvolle Geschichte des 19. Jahrhunderts. Durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 wurde das Gebiet Elsass-Lothringen Teil des Deutschen Reiches, Nancy blieb als Grenzort jedoch französisch. „Intellektuelle, Industrielle und begüterte Bürger zogen aus den besetzten Gebieten nach Nancy“, so Hübler-Delcroix.

Die Stadt am Meurthe-Fluss erlebte einen Boom, ihre Einwohnerzahl verdoppelte sich von 50.000 auf 100.000 zwischen 1871 und 1900. Glas- und Stahlfabriken wurden gegründet, dazu noch chemische Werke. Künstler siedelten ebenfalls nach Nancy über. Glasgestalter, Zimmerer und Schreiner, Architekten und Bauplaner gründeten Ateliers und Manufakturen.

Als Einheimischer mischte Glaskünstler Émile Gallé in der Szene mit. In seiner Werkstatt entwickelte er neue Techniken der Glasbläserkunst: Marmorierung, Reflexe, farbige Überlagerungen des Dekors von Vasen, Lampen, Schalen und Trinkgefäßen – alles das war neu und ist bis heute einzigartig. 1901 schließlich gründete Gallé mit Gleichgesinnten die École de Nancy (Schule von Nancy) als künstlerisches Zentrum. Jugendstil machte die Stadt zur Kunst.

Ein 250 Quadratmeter großes Glasdach

„Jugendstil zeichnet sich durch elegant geschwungene Linien aus, florale Muster sind zu erkennen. Glaskünstler, Möbeldesigner, Maler, Zimmerleute und auch Architekten ließen sich von den Linien der Natur inspirieren“, erläutert Ilse Hübler-Delcroix.

Doch wo sind die baulichen Zeugen des Jugendstils - französisch Art Nouveau genannt - versteckt? Madame Hübler-Delcroix huscht mit ihren Gästen treppauf hinein in die Crédit Lyonnais-Bank. Die schauen himmelwärts und kommen aus dem Staunen kaum heraus. 250 Quadratmeter umfasst das imposante Glasdach über der Schalterhalle.

Im Jahr 1901 wurde es geschaffen aus 264 Segmenten von Glasmaler Jacques Gruber, einem der Mitbegründer der École de Nancy. Florale Muster bestimmen das farbenfrohe Kunstwerk. Clematis-Blätter mit ihren schwingenden Linien sind auszumachen, kennzeichnend für den Jugendstil.

Zwischenstopp zur Mittagszeit in der „Brasserie Excelsior“ (Rue Henri Poincaré), nach einem Jahr Bauzeit 1911 eröffnet. Auch hier eindeutige Spuren: Die Glasfenster stammen von Jacques Gruber, das Mobiliar von Louis Majorelle, die Lampen aus der Manufaktur Daum – Jugendstil rundherum.

Aert déco löst den Jugendstil ab

Die Brasserie brummt, feiner Fisch steht auf der Menükarte, Champagnerkorken knallen. Touristen wie Einheimische lassen es sich hier gut gehen. Kaum zu glauben, dass auch die Brasserie der Bauwut zum Opfer fallen sollte. „Doch es gab Proteste, und in der Folge wurden viele Jugendstilhäuser unter Denkmalschutz gestellt“, sagt Hübler-Delcroix.

Bis zu den nächsten Highlights des Jugendstils sind es etliche Schritte: Noble Villen säumen die stillen Straßen im Saurupt-Viertel. Manche versteckt hinter dichtem Grün oder geschützt mit kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Toren. Von 1900 bis etwa 1930 wurde im Stadtviertel Saurupt gebaut.

„Klare Linien des Art déco lösen bei einigen Bauten den verspielten Jugendstil ab, ab 1920 wird Art déco immer beliebter“, erläutert die Stadtführerin. Auffallend sind auch Fassadenelemente oder Ecksteine mit den Namen der Architekten wie etwa von Émilie André an der Villa Les Glycines – die Bauplaner setzten sich hiermit selbst in Szene.

Gegen Ende der Jugendstil-Tour erwartet die Besucher ein einzigartiges Gesamtkunstwerk – die Villa Majorelle in der Rue Louis Majorelle. Ab 1901 wurde es als Wohnhaus des Möbeldesigners Louis Majorelle erbaut. Heutzutage strömen die Besucher vorüber am verzierten Mobiliar in Lounge und Esszimmer, dem geschwungenen Treppengeländer und dem Schlafzimmer.

Selbst die Fassade des dreistöckigen Gebäudes wurde detailreich geschmückt. Die Fallrohre der Regenrinne sind durch Befestigungen gehalten, die Wasserpflanzen darstellen. Mehr Jugendstil geht fast nicht mehr. Oder doch?

Wer sein müdes Haupt im pittoresken Gästehaus „Myon“ von Madame Martine Quénot zur Ruhe bettet, entdeckt dort auf Glastischen und Sideboards Dutzende Blumenvasen. Manche sind verziert mit floralen Symbolen – eben Jugendstil.

Links, Tipps, Praktisches:

Reiseziel: Nancy mit rund 105.000 Einwohnern ist das Zentrum der Region Grand Est. Die Stadt entstand im 11. Jahrhundert, im 18. Jahrhundert beeinflusste der polnische Herzog Stanisas vor allem die Architektur der Stadt. Nancy gilt als bedeutendes Zentrum des französischen Jugendstils Art Nouveau. Seit mehr als 40 Jahren stehen die drei Plätze Place Stanislas, Place d‘ Alliance, Place de la Charrière und der Triumphbogen Arc Héré auf der Unesco-Welterbeliste.

Anreise und unterwegs vor Ort: Mit dem Auto ist man ab Berlin rund neun, ab Köln vier und ab München rund fünfeinhalb Stunden unterwegs. In Nancy hält der Hochgeschwindigkeitszug TGV, zum Beispiel ab Paris dauert die Fahrt anderthalb Stunden (sncf-connect.com). Ab Deutschland erfordert die Bahnanreise mehrfaches Umsteigen (bahn.de). Der Nancy City Pass bietet die kostenlose Beförderung im Nancy-Verkehrsnetz und unter anderem auch kostenlosen Zugang zu Museen und öffentlichen Sehenswürdigkeiten. Kosten: 30 Euro für 24 Stunden und zwei Personen.

Reisezeit: ganzjährig

Jugendstil-Rundgang: Am Tourismusbüro (Place Stanislas) beginnt der knapp sechs Kilometer lange Art-Nouveau-Rundweg. Er ist gekennzeichnet mit einem Ginkgoblatt, einem Symbol für den Jugendstil. Rund drei Stunden sollte man für die Tour auf eigene Faust einplanen.

Museen: 2025 feiert Nancy den 100. Jahrestag der internationalen Ausstellung für moderne dekorative Kunst und Kunstgewerbe. Die Schau mit dem Titel „Nancy 1925“ im Kunstmuseum der Stadt (Musée des Beau-Arts) zeigt, was Art Nouveau und Art déco verband (ab 17. Oktober 2025). Das Museum Villa Majorelle hat mittwochs bis sonntags geöffnet, Reservierung empfohlen.

Unterkünfte: Übernachtungen im Doppelzimmer in zentral gelegenen Hotels kosten ab 100 Euro.

Weiterführende Informationen: nancy-tourisme.fr/de