1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. «Kicken und Lesen»: Über Fußball zu den Büchern

«Kicken und Lesen»: Über Fußball zu den Büchern

Von Heike Sonnberger 02.07.2008, 07:17

Stuttgart/dpa. - Jede freie Minute verbringen sie auf dem Bolzplatz. Fußball ist cool, Bücher sind was für Streber. Die vielen Jungs, die so denken, will ein Projekt der Landesstiftung Baden-Württemberg fürs Lesen begeistern - über den Sport.

«Pubertierende Jungen mit Migrationshintergrund - das ist die Problemgruppe, die uns durchs Netz geht», sagt Projektsprecherin Marina Kirchmayer. Zehn Einzelprojekte hat die Landesstiftung deshalb im April ausgewählt und mit je 2000 Euro bezuschusst. Sie sollen jeweils rund 15 Jungen zwischen 9 und 14 Jahren aus «bildungsfernen Elternhäusern» an zehn Tagen das Lesen näherbringen.

Ihr Wege zum Erfolg unterscheiden sich: So organisierte der Stadtjugendring Weil am Rhein mehrere Lesenächte, das Kreismedienzentrum in Ravensburg drehte mit den Kindern einen Fußballfilm, in Reutlingen sammelten die Teilnehmer Punkte in einem Fußball-Lese-Pass. «'Karo Karotte und die Superkicker', 'Die Hexe Lilli und das verzauberte Fußballspiel'... Es gibt so viele Bücher zu dem Thema», sagt die Reutlinger Projektleiterin Erika Seitz.

In der Turnhalle im Jugendhaus Fellbach stehen 13 Jungen unruhig auf einem Podest vor zwei Mikrofonen. Der Theaterpädagoge Peter Hauser verteilt die Rollen und nacheinander lesen die Kinder je einen Satz aus einer Fußballgeschichte vor. Ein paar Minuten lang halten alle still und hören zu. Doch sobald Hauser in seine Trillerpfeife bläst, stürmen sie krakeelend aufs Spielfeld.

«Die müssen Dampf ablassen», sagt Hauser. Deshalb hat der 35-Jährige seine Schützlinge zum Vorlesen aufs Podest verbannt. Auf dem Spielfeld konnten sie sich nicht auf den Text konzentrieren. In dem Theaterstück, das sie zusammen eingeübt haben, lesen die Kinder abwechselnd Auszüge aus der Geschichte und spielen gegeneinander Fußball. Aus acht Nationen und fünf Schultypen kommen sie. Am Anfang gab es oft Zoff, weil die Spielordnung noch nicht feststand, doch inzwischen funktioniert die Zusammenarbeit. Die Kinder seien aufmerksamer geworden und könnten besser vorlesen, sagt Hauser.

Gute Erfahrungen hat auch Projektleiter Alexander Beer aus Ravensburg gemacht. Die Schüler seien in den Ferien jeden Tag freiwillig aufgetaucht, viele sogar eine Stunde vor Beginn. «Ich war sehr überrascht, dass es ohne Druck geklappt hat», sagt der Hauptschullehrer. Durch das gemeinsame Recherchieren in Sachbüchern seien die Kinder kritischer und kritikfähiger geworden. «Es hat sich eine Aufmerksamkeitskultur entwickelt, die ich bei diesen Jungs oft vermisst habe.»

Doch nicht nur die Lesefähigkeit habe profitiert. Einer der Jungen hatte «zwei linke Beine» und stand mit dem Ball auf Kriegsfuß, erzählt Beer. Jetzt kann er passabel kicken und darf endlich in der Pause mitspielen. Ein weiterer schöner Nebeneffekt: Beim Abschlussfest spielten die Kids gegen Eltern und Lehrer, die untereinander vorher sehr wenig Kontakt hatten. «Sie haben als Mannschaft in der Kabine gesessen und gemeinsam geschwitzt - das war für die Eltern auch ganz wichtig», sagt Beer. Beim nächsten Mal sollten die Eltern gleich von Anfang an mitmachen.

Im kommenden Jahr soll das Projekt wahrscheinlich wieder ausgeschrieben werden. Ganz bewusst wurde es diesmal nur für Jungen angeboten, die Statistiken zufolge schlechtere Noten haben, öfter die Schule abbrechen und seltener Abitur machen als Mädchen. Es gibt verschiedene Ansichten, ob der Ansatz sinnvoll ist. «Das weibliche Element wirkt ausgleichend», sagt Hauser. «Das Balzverhalten hätte das Ganze viel schwerer gemacht», findet Beer. In einem sind sie sich aber einig: «Die Mädchen waren stinksauer, dass sie nicht mitmachen durften.»

Informationen zum Projekt: www.kickenundlesen.de