Teil 15: Olympiasieger aus Erfurt Teil 15: Olympiasieger aus Erfurt: Hartwig Gauder lebt mit einem Spenderorgan

Halle (Saale) - Fürchte dich nicht, langsam zu gehen. Fürchte dich nur, stehenzubleiben. Dieser Spruch ist zum Lebensmotto von Hartwig Gauder geworden. Und zwar zu einer Zeit, als der Olympiasieger von 1980 in der Disziplin 50 Kilometer Gehen nach einer Herztransplantation zurück ins Leben fand. Heute versucht er, in vielen Vorträgen und Seminaren Menschen zu motivieren, sich diesem Motto anzuschließen. Gerade nach einem Schicksalsschlag. Dazu erzählt der Erfurter ihnen einfach seine Geschichte. Eine Geschichte, die so richtig erst beginnt, als seine sportliche Laufbahn schon anderthalb Jahre hinter ihm liegt.
Es ist Herbst 1994. Der damals 40-Jährige spürt, dass seine Leistungsfähigkeit nachlässt. „Aber ich war trotzdem noch besser, als meine nicht so gut trainierten Sportfreunde, mit denen ich gejoggt bin“, erzählt Hartwig Gauder. Dass er nicht mehr ganz so schnell wie früher läuft, hält er für normal. „Ich habe mir gesagt, du trainierst nicht mehr so viel, du näherst dich jetzt dem Niveau der anderen an.“
Warnsignale falsch gedeutet
Der damalige Architekturstudent fühlt sich immer schlapper, leidet unter Nasenbluten. Häufig kommt es zu Schlafattacken. „Ich habe im Büro gezeichnet. Und von einer Minute zur anderen musste ich Pause machen. Ich habe mich auf den Fußboden gelegt und bin sofort eingeschlafen“, sagt er. Wenn er im Auto unterwegs ist, passiert es, dass er den nächsten Parkplatz ansteuern muss, um erst einmal zu schlafen.
Hartwig Gauder deutet alle diese Warnsignale des Körpers falsch. Er glaubt, nicht richtig abzutrainieren. Forciert die Aktivitäten wieder. Er macht sogar noch eine Ausbildung zum Hobbytaucher. Und er fliegt nach Mexiko zu den alten Ausgrabungsstätten der Inkas und Mayas. Erst im März 1995, in den Semesterferien, geht er zum Arzt. Die Diagnose ist ein Schock. Sein Herz hat nur noch eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Sie liegt erst bei 30, zuletzt bei nur noch 16 Prozent.
Herz nur noch bei 16 Prozent
Auch die Ursache dafür wird gefunden. Nicht der Sport ist schuld am Zustand Hartwig Gauders. Als Architekturstudent hat er in Weimar eine ehemalige Geflügelmastanlage auf einem von der Sowjetarmee verlassenen Gelände vermessen. Das Gebäude ist mit Bakterien verseucht. Er arbeitet dort ohne Mundschutz und infiziert sich.
Mit einem Herzen, das nur noch eine Kapazität von 16 Prozent hat, geht nun gar nichts mehr. „Schon das Sitzen auf der Bettkante strengte an wie ein Wettkampf“, sagt Hartwig Gauder. Der frühere Leistungssportler muss sich mit dem Gedanken an eine Herztransplantation auseinandersetzen. Zunächst aber wird ihm im Bauchraum ein Kunstherz eingepflanzt. „Ich habe mich auf dieses künstliche System eingelassen, weil es die Brücke zum Leben war“, sagt er. „Die Entscheidung, dazu Ja zu sagen ist mir leichter gefallen als das Ja zur Transplantation.“
Zerschlagene Hoffnung
Hartwig Gauder hofft, dass sein eigenes Herz durch die Entlastung Zeit gewinnt. Zeit, sich zu erholen. Doch die Hoffnung zerschlägt sich in dem Moment, in dem er sich einen Krankenhauskeim einfängt. Es kommt zu einer schweren Entzündung. Nun steht fest: Zu einer Herztransplantation gibt es keine Alternative mehr. „Ich musste mich entscheiden: Ja oder Nein. Nein hieß Tod, Ja hieß Weiterleben - eventuell.“
Hartwig Gauder denkt lange darüber nach. „Ich wollte mir keine Schwäche eingestehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich alles aus eigener Kraft geschafft. Mir war kein Berg zu hoch, keine Strecke zu lang“, sagt er. Er ist der Meinung, auch die Krankheit meistern zu können. Es ist letztendlich seine Frau, die den Ausschlag gibt, Ja zu sagen.
Wieder im Training
Nun will er „in einer hervorragenden körperlichen Konstitution“ zur Transplantation gehen. Er fängt an, entsprechend seiner Möglichkeiten „den Körper in Form zu bringen“. Das hat er schon einmal getan. Nach der Kunstherzimplantation war er für sieben Tage ins Koma gefallen. Eine Zeit, an die er sich bis heute nicht gern erinnert. Und dann warf ihn die Sepsis wieder zurück. Doch jetzt wird wieder trainiert. „Ich habe selbst das Krankenbett als Sportgerät genutzt oder bei geöffnetem Fenster spezielle Atemübungen gemacht.“
Ein reichliches Jahr muss der Mann warten - bis am 30. Januar 1997 die Tür zum Krankenzimmer aufgeht und eine Ärztin sagt: „Gauderchen, wir haben was.“ Er hört gerade Musik: „Time to say goodbye“ von Sarah Brightman - bis heute eines seiner Lieblingslieder.
"Ich bin einfach ein Glückskind"
Die Operation dauert etwa acht Stunden. „Dann habe ich die Augen aufgemacht, in mich hineingehört, den Herzschlag gehört und gesagt: Das passt. Von der ersten Sekunde an, die ich mit dem Spenderherzen erlebt habe, waren wir ein Team.“
Nun geht es rasant bergauf. „Am zweiten Tag habe ich das Bett verlassen, am dritten Tag stand ich für wenige Minuten auf dem Laufband.“ Von Tag zu Tag steigert er die Belastung. Denn er hat ein Ziel. Er will als Walker am New-York-Marathon teilnehmen. Ein Vorhaben mit einer ganz besonderen Geschichte. Hartwig Gauder, der Anfang der 90er Jahre in Deutschland die Walking-Bewegung mit aufgebaut hat, ist durch den Amerikaner Ron Barber auf diesen Sport aufmerksam geworden. Der war 1987 bei einem Weltcup in den USA sein Betreuer. Später haben sich die beiden in New York gemeinsam für diese Art der Bewegung engagiert. „Was ich damals jedoch nicht wusste: Ron Barber lebte mit einem transplantierten Herzen“, erzählt Hartwig Gauder. Nun selbst schwer krank erhielt er 1996 einen Brief mit der Nachricht, dass sein Freund gestorben ist. „Damals habe ich mir vorgenommen, wenn ich das hier alles überstanden habe, werde ich in seinem Geiste bei einem Marathon starten.“
Zu schnell beim Marathon
Hartwig Gauder hält Wort. Anderthalb Jahre nach der Transplantation steht er in New York am Start - gemeinsam mit Matthew, einem der beiden Söhne von Ron Barber. Im Ziel wird er allerdings disqualifiziert. Gestartet bei den Sportlern mit Handicap, ist er zu schnell. „Als Behinderter darf man eine bestimmte Zeit nicht unterschreiten“, erklärt er. Aber es ist eine Disqualifikation, mit der er gut leben kann.
Vor nicht allzu langer Zeit hat Hartwig Gauder übrigens wieder eine Nachricht aus den USA erhalten. Der zweite Sohn von Ron Barber, Mark, hat die gleiche Erkrankung wie sein Vater. Er wartet nun auf eine Transplantation. Und Matthew ist für ihn noch einmal den New-York-Marathon gelaufen. „Es ist eine traurige Geschichte und ich hoffe, dass sie gut ausgeht“, sagt der deutsche Freund.
Zuerst in die Reha-Klinik
Damals 1997, nach seiner Entlassung aus der Klinik, setzt Hartwig Gauder alles daran, sich für diesen Lauf fit zu machen. Zunächst in einer Reha-Klinik. Er passt dort aber in keine Gruppe und bekommt Einzeltraining. Krafttraining und Gymnastik. Der ehemalige Hochleistungssportler fängt zudem mit langsamen Spaziergängen an, wird im Laufe der Zeit schneller, bis es ans Joggen geht. „Ich wusste durch meine sportliche Laufbahn, wie man seinen Körper aufbaut. Dieses Wissen habe ich eingesetzt. Nur passierte alles auf einem sehr viel niedrigeren Niveau“, sagt er. Dieses Wissen vermittelt er bis heute weiter an Herzpatienten. „Weil ich eindeutig der Meinung bin, dass Schonung nicht zur Besserung führt, dass wir nur durch eine gezielte und richtige Belastung zum Erfolg kommen“, betont er.
Auch Rückschläge gehören dazu
Hartwig Gauder, der im August 2003 als erster Mensch mit einem transplantierten Herzen den Fuji-San, den höchsten Berg Japans besteigt, muss aber auch Rückschläge verkraften. 2009 zum Beispiel, als bei einem medizinischen Eingriff eine Herzklappe verletzt und eine erneute Operation fällig wird. Er erhält einen Bypass und Stents. Oder als er erst vor wenigen Monaten wegen Herzrhythmusstörungen behandelt werden muss. Aber er fängt immer wieder von vorn an. Getreu seines Lebensmottos.
Hartwig Gauder treibt bis heute Sport. Er walkt, schwimmt, spielt Golf... Er sucht Bewegung im Alltag. Doch noch etwas anderes hält ihn fit. „Dass es mir so gut geht, dass ich so viel machen kann und darf, das habe ich ausschließlich meiner Frau zu verdanken“, sagt der heute 61-Jährige. „Sie treibt mich an, sie bremst mich, sie motiviert mich. Sie ist da, wenn es mir schlecht geht. Sie opfert sich auf. Ich bin einfach ein Glückskind.“ (mz)