Sucht Sucht: Mit Pillen ins Traumland
Halle/MZ. - Dabei sind Arzneimittel nach Alkohol die zweithäufigste Droge in Deutschland. 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen sind der Techniker Krankenkasse (TK) und der Deutschen Angestelltenkasse (DAK) zufolge in Deutschland von verschreibungspflichtigen Medikamenten abhängig.
Medikamentensucht ist ein stilles Leiden. "In der Öffentlichkeit wird das Problem kaum wahrgenommen", sagt Ralf Kremer, Diplom-Pädagoge und Suchtexperte bei der DAK. Die Betroffenen fallen beim Konsum kaum auf, häufig erkennen sie erst in einem sehr späten Stadium, dass sie nicht mehr ohne können. Doch der Konsum der vermeintlichen Gesundmacher kann auf Dauer erhebliche Probleme mit sich bringen. Lässt die Wirkung des Mittels nach, wird einfach die Dosis erhöht. "Ein Teufelskreis", sagt Kremer, "denn Medikamentenmissbrauch kann zu psychischen Störungen, sozialer Isolation und ernsthaften körperlichen Schäden führen." Verwirrtheit, Ängste, Herzversagen sowie Leber- oder Nierenprobleme seien häufige Folgen.
Apotheker Dr. Frank Verheyen, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen, meint, viele Beschwerden wie Unruhe oder Schlaf- und Befindlichkeitsstörungen seien sehr diffus und ähnelten den ursprünglichen Beschwerden. "Deshalb steigern einige Ärzte die Medikation und schaffen dadurch eine Spirale aus stärkeren Beschwerden und einer immer höheren Dosierung des Mittels", sagt Verheyen. Angehörige sollten seiner Ansicht nach sensibel werden, wenn sich jemand Arzneimittel von verschiedenen Ärzten oder Apotheken besorgt, um nicht aufzufallen.
Frauen besonders gefährdet
Bei einer starken Abhängigkeit ziehen sich die Betroffenen zurück, sind gleichgültig und schwanken stark in ihren Stimmungen, erklärt Verheyen. Aber auch Schläfrigkeit während des Tages, Stürze und neurologische Ausfälle sowie Gewichtsschwankungen seien typische Anzeichen für Medikamentenmissbrauch. Besonders gefährdet seien Frauen. Sie sind mit zwei Dritteln überproportional stark von Arzneimittelsucht betroffen. Verantwortlich dafür ist unter anderem der Schönheitswahn. Die Bereitschaft, zu Mitteln wie Appetitzüglern zu greifen, ist bei ihnen stärker ausgeprägt. Männer greifen laut Kremer eher zum Alkohol. Die Abhängigkeit von Arzneimitteln wird nach Ansicht von Verheyen stark unterschätzt. "Wenn Ärzte beispielsweise bei bestimmten Schlafmitteln fast jedem zweiten Patienten mehr als eine Monatsdosis verschreiben, muss hinterfragt werden, ob dies immer medizinisch notwendig und sinnvoll ist." Der Institutsleiter bedauert, dass viel zu viele Menschen ihre Lebensprobleme zu häufig mit chemischen Mitteln regeln und sich mit Pillen quasi ins Traumland befördern; egal ob Probleme mit dem Einschlafen, ob zum Entspannen oder für die bessere Konzentration. "Aber die Einstellung, dass es für jedes Problem eine passende Pille gibt, ist hoch problematisch und endet nicht selten in der Sucht", ist Verheyen überzeugt.
Nach Aussagen der DAK besitzen rund sechs Prozent aller häufig verordneten Arzneimittel Suchtpotenzial. An der Spitze stehen Schlaf- und Beruhigungsmittel mit dem sogenannten Benzodiazepin-Wirkstoff.
Vorsicht bei Schlaftabletten
Schlaftabletten sollten immer nur ein kurzfristiger Begleiter sein, rät die TK. So empfehle die Leitlinie für die Verschreibung von Beruhigungsmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine, dass sie höchstens acht Wochen lang verabreicht werden sollen. Studien von Arzneimittelverschreibungen sprechen allerdings eine andere Sprache: 45 Prozent der Benzodiazepin-Schlafmittel und 38 Prozent der Benzodiazepin-Beruhigungsmittel werden nach Angaben des Arzneimittel-Experten Professor Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen länger als drei Monate verordnet.
Dr. Frank Verheyen meint, dass das wahre Ausmaß der Schlafmittelsucht vermutlich noch viel größer ist: "Die Ärzte weichen mittlerweile immer häufiger auf Privatrezepte aus, die in keiner Statistik auftauchen." Die Patienten müssten dann das Mittel aus eigener Tasche bezahlen. "Den Betroffenen ist damit aber nicht wirklich geholfen, weil ihnen der Weg aus der Sucht immer schwerer fällt", sagt Verheyen. Schlafmittelkonsumenten sollten skeptisch werden, wenn sie einen starken Drang zur Einnahme des Arzneimittels verspüren.
Schmerzmittel sind eine weitere Gruppe von Medikamenten, die häufig missbraucht werden und süchtig machen können. "Offensichtlich ist den Menschen nicht bewusst, dass die meist frei verkäuflichen Schmerzmittel bei einer zu langen Einnahme erhebliche Ge-sundheitsgefahren mit sich bringen", sagt die Apothekerin Damra Saric. 32 Prozent der Teilnehmer an einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der TK würden Schmerzmittel bei Bedarf auch über die empfohlene maximale Einnahmedauer hinaus verwenden. Dabei sollten häufig verwendete Schmerzmittel mit den Wirkstoffen Acetylsalicylsäure (ASS), Paracetamol und Ibuprofen beispielsweise ohne ärztlichen Rat nicht länger als drei Tage hintereinander und nicht häufiger als zehn Tage im Monat angewendet werden. "Bei Paracetamol kann eine zu lange Einnahme zu schweren Leberschäden und bei einer Überdosierung zum Tod führen", erklärt Saric. Ibuprofen und ASS könnten gefährliche Magenblutungen auslösen. Außerdem gebe es einen paradoxen Effekt: Bei langfristiger Einnahme riefen die Mittel selbst Kopfschmerzen hervor. "Viele Menschen glauben fälschlicherweise, dass die Mittel harmlos sind, weil sie in Apotheken frei verkäuflich sind und nicht vom Arzt verschrieben werden müssen", vermutet die Apothekerin.