Naturmedizin Naturmedizin: Kraut verliert Unschuld
Halle/MZ. - In Deutschland avancierte es regelrecht zur Modedroge. Es gibt Zubereitungen in Form von Säften, Ölen, Tees, Tinkturen, Pillen, Kapseln und homöopathischen Verdünnungen. Äußerlich wird Johanniskraut zum Beispiel gegen scharfe und stumpfe Verletzungen oder leichte Verbrennungen empfohlen. Innerlich spricht man ihm eine Wirkung bei psychovegetativen Störungen, nervöser Unruhe, Verdauungsbeschwerden und Stimmungsschwankungen zu.
Als einzige Arzneimittel, die sich nicht chemisch definieren, wurden Medikamente aus Johanniskraut zuletzt sogar zur Behandlung von mittelschweren Depressionen zugelassen. Allerdings ist die Freude an dem Triumph nicht mehr ungeteilt. Denn er wurde von irritierenden Erkenntnissen begleitet, die auch Anhängern einer "sanften" Naturmedizin die Illusion raubten, so ein pflanzliches Medikament könne "natürlich", wirksam und trotzdem immer harmlos sein.
Auch Patienten, die Johanniskraut nehmen, klagen bei höheren Dosierungen über Nebenwirkungen: Verdauungsstörungen, Schwindel, Hautjucken, höhere Lichtempfindlichkeit, Müdigkeit, innere Unruhe. Trotzdem gelten die Mittel im Vergleich zu den chemischen Antidepressiva immer noch als verträglicher.
Prekärer sind die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die ihre Wirkung teilweise oder sogar weitgehend verlieren können, wenn sie gleichzeitig mit pharmazeutischen Hypericum-Extrakten eingenommen werden. Offenbar erhöht das Johanniskraut die Aktivität eines speziellen Abbau-Enzyms in der Leber, über das auch die anderen Medikamente verstoffwechselt werden. So sank bei gesunden Probanden, die Digoxin, eine Wirksubstanz weit verbreiteter Herzmittel, und zugleich ein Johanniskraut-Präparat einnahmen, die Konzentration des Herzmittels um ein Viertel. Ähnliche Kollisionen gab es mit dem Wirkstoff von Blutverdünnern wie Marcoumar, Aids-Mitteln und Medikamenten zur Unterdrückung der Immunabwehr, die Patienten nach Transplantationen einnehmen müssen.
In Beipackzetteln wird vor solchen Wechselwirkungen inzwischen ausdrücklich gewarnt. In Deutschland wurde für höher dosierte Johanniskraut-Präparate, die bis dahin frei verkäuflich waren, 2003 eine Apothekenpflicht eingeführt. Jetzt wurde das arzneimittelrechtliche Korsett noch einmal enger geschnürt. Diejenigen Johanniskrautpräparate, die zur Behandlung einer mittelschweren Depression zugelassen sind, wurden zum 1. April 2009 verschreibungspflichtig.
Begründet wird die Entscheidung zunächst damit, dass die Behandlung einer mittelschweren Depression grundsätzlich in die Hände eines Arztes gehöre. Doch dahinter steckt mehr. Konkret wird depressiven Patienten bei der Einnahme von höher dosiertem Johanniskraut ein erhöhtes Suizidrisiko zugeschrieben - wie bei den vorher schon verschreibungspflichtigen chemisch definierten Antidepressiva. Auch bei mittelschweren Depressionen sei ein Suizidrisiko "grundsätzlich" jedenfalls gegeben, heißt es in der amtlichen Begründung zur Änderung der deutschen "Arzneimittelverschreibungsverordnung" (AMVV).
Eigentlich ziele die Therapie darauf ab, durch eine seelische Stabilisierung dieses Suizidrisiko zu senken. Allerdings trete der positive Effekt erst nach einer mehrwöchigen "Latenzphase" ein. In dieser Zeit würden Patienten oft schon eine "psychomotorische Aktivierung" erleben. Bei einer anhaltend depressiven Stimmung könnten sie so befähigt werden, einen etwa geplanten Selbstmord in die Tat umzusetzen. Zudem sei "experimentell belegt", dass "Johanniskraut-haltige Präparate ähnliche Wirkungen entfalten, wie sie für chemisch definierte Antidepressiva bekannt sind".
Fazit: Das erhöhte Selbstmordrisiko bei den depressiven Patienten erfordere in beiden Fällen die Kontrolle der Behandlung durch einen Arzt. Auch einzelne Fälle von "Suizidversuchen beziehungsweise Suizidgedanken" hat es gegeben, die dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet wurden, weil sie zumindest in "zeitlichem Zusammenhang" mit der Einnahme von Johanniskraut-Präparaten standen. Ulrich Hagemann, Leiter der Abteilung für Arzneimittelsicherheit beim BfArM versichert, dass sie aber nicht der Auslöser für die Rezeptpflicht gewesen seien. Er spricht von einer "Gleichbehandlung" der chemischen und pflanzlichen Antidepressiva, die nun vollzogen worden sei.
Wohlgemerkt, die beliebten Tees sind davon nicht erfasst. Die Entscheidung war auch nicht unumstritten. Bernd Eberwein, Geschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller, bleibt überzeugt: "Eine Suizidgefahr bei Johanniskraut ist nicht gegeben." Er war Mitglied im Sachverständigenausschuss, der eine Rezeptpflicht Anfang 2008 mehrheitlich abgelehnt hatte. Das Bundesgesundheitsministerium setzte sich über dieses Votum hinweg. Das alte "Sonnenwendkraut" hat seine pharmazeutische Unschuld damit definitiv verloren. Ansonsten ändert sich faktisch nicht allzu viel. Denn die Firmen brachten neue frei verkäufliche Mittel auf den Markt.
"Laif 900 Balance" heißt ein solches Mittel der Firma Steigerwald. "Die Filmtabletten enthalten 900 Milligramm Johanniskraut-Trockenextrakt", heißt es dazu im Branchendienst "apotheke adhoc" - genau wie das alte "Laif 900". "Auch die Art der Hilfsstoffe ist identisch." Da auf die Indikation der mittelschweren Depression verzichtet und die Zulassung nur für "leichte vorübergehende depressive Störungen" beantragt wurde, sei das Präparat nur apothekenpflichtig. Bei Dr. Willmar Schwabe wurde dem - nunmehr rezeptpflichtigen - "Neuroplant" ein frei verkäufliches Mittel mit dem Namen "Neuroplant Aktiv" hinzugesellt. Auch von "Jarsin" (Cassella-med) gibt es beide Varianten.